Der verlorene Ursprung
der Mitte sitzenden eindrucksvollen Zeptergott. Der Gott fiel zwar in Proxis Bereich, doch las man die Beschreibungen des Tores, fiel es schwer, die Aussagen über den Gott vom Rest zu trennen. Bei meinen Nachforschungen entdeckte ich, daß in fast allen Texten behauptet wurde, das Männchen ohne Füße stelle den Inkagott Viracocha dar. Das zeigte mir erneut, wie dünn die Fakten in diesem Bereich gesät waren. Dabei hatten die meisten Fachleute diese Theorie seit langem verworfen, wie ich von der Doctora wußte. Allerdings schien das vielen Autoren nicht bekannt zu sein. So würde der Zeptergott noch lange Viracocha bleiben. Und die achtundvierzig ihn flankierenden Figürchen - vierundzwanzig zu jeder Seite, in je drei Achterreihen angeordnet - würden weiterhin angeblich achtundvierzig Cherubime darstellen. Schlicht und einfach deshalb, weil sie Flügel hatten und ein Knie beugten, wie im Lauf erstarrt oder in ehrfürchtiger Anbetung. Und obwohl einige von ihnen auf dem menschlichen Körper wunderschöne Kondorköpfe trugen, würden sie im Auge des Betrachters bis zum Beweis des Gegenteils weiterhin kleine, geflügelte, mit Engeln vergleichbare Geister bleiben.
Einige der anerkanntesten Archäologen stellten ganz unverhohlen die sonderbare Theorie in den Raum, der Fries habe als Bauernkalender gedient. Die Figuren des Frieses stellten demzufolge nichts anderes dar als die dreißig Tage des Monats, die zwölf Monate des Jahres, die beiden Sonnenwenden und die beiden Tagundnachtgleichen. Vielleicht stimmte diese Theorie ja, aber man mußte schon über sehr viel Phantasie verfügen - oder zumindest über bessere Kenntnisse als ich -, um eine derart gewagte These aufzustellen. Was auch für die Behauptung mancher Experten galt, der Kalender auf dem Sonnentor sei unter Umständen der Venuskalender mit seinen auf zehn Monate verteilten zweihundertneunzig Tagen.
Meine Skepsis und mein Mißtrauen waren schon fast ausgereizt, da erlebte ich eine Riesenüberraschung. Bei der weiteren Lektüre stieß ich auf eine außerordentlich verblüffende Behauptung. Ein Forscher namens Graham Hancock hatte entdeckt, daß auf dem Sonnentor einige bereits vor mehreren Jahrtausenden ausgestorbene Tiere abgebildet waren. Tiere, die zu einer Zeit gelebt hatten, in der den Wissenschaftlern zufolge Tiahuanaco noch gar nicht existiert haben konnte. Anscheinend waren in den unteren Teil des Frieses, im vierten Zierstreifen, der mir nicht besonders aufgefallen war, unverkennbar die Köpfe zweier Exemplare des Cuvieronius-Elefanten eingemeißelt. An jedem Ende des vier Meter langen Türsturzes saß einer, und an einer anderen Stelle der Kopf eines Toxodonten. Das Unglaubliche daran war, daß beide Arten gegen Ende der Eiszeit, also vor zehn- bis zwölftausend Jahren, wie viele andere Arten von der Erdoberfläche verschwunden waren. Warum, das wußte bis heute niemand.
Ich stand von meinem Platz vor dem Computer auf und nahm mir sämtliche Vergrößerungen des Sonnentores vor, die Jabba aus dem Laserdrucker holte. Obwohl ich den vierten Streifen deutlich sah, erkannte ich nur verschwommen die Reliefformen. Ich dachte eine Weile nach und ging dann ins Zimmer meiner Großmutter, wo ich eine ihrer Lesebrillen vorzufinden hoffte. Ich hatte Glück, auf dem Nachttisch lagen gleich zwei in ihren Brillenetuis. Als ich mit den improvisierten Lupen in mein Büro zurückkehrte, reichte ich die eine Jabba, der mir wie ein Setter auf den Fersen war, der Beute gewittert hat. Den Toxodonten, einen dem Rhinozeros ähnlichen Pflanzenfresser ohne Nasenhorn, entdeckten wir nirgends, vielleicht weil die Fotos zu verschwommen waren. Aber den Cuvieronius, das Ebenbild des heutigen Elefanten, machten wir sofort ausfindig. Mit seinen großen Ohren, seinem Rüssel und den Stoßzähnen war er unverwechselbar. Vom Rand aus gezählt, waren unter der dritten und vierten senkrechten Reihe geflügelter kleiner Geister mehrere Cuvieronii in den Stein gearbeitet. Es war merkwürdig, die Tatsache bestätigt zu finden, daß das Sonnentor über zehntausend Jahre alt sein mußte. Denn die Künstler von Tiahuanaco konnten unmöglich jemals einen Elefanten zu Gesicht bekommen haben, da es in Südamerika nie welche gegeben hatte. Also konnte es sich hier nur um den Cuvieronius handeln, diesen vorsintflutlichen Mastodonten. Seine fossilen Überreste bezeugten, daß er bis zu seinem plötzlichen und unerklärlichen Aussterben vor zehn-, zwölftausend Jahren auf dem amerikanischen
Weitere Kostenlose Bücher