Der verlorne Sohn
gegangen, wo er für diese Nacht schlafen sollte.
Am Tische, von dem Scheine des Lichtes nicht getroffen, saß der Köhler mit seiner Frau. Sie hatten allerlei Gedanken auszutauschen und sprachen so leise mit einander, daß die Pflegerin nichts davon hören konnte.
»Und ich behaupte doch, daß er es nicht ist,« raunte die Frau dem Manne zu, ein begonnenes Gespräch fortsetzend.
»Aber beweisen kannst Du es nicht!«
»Nein.«
»Woher willst Du das so genau wissen?«
»Ich fühle es.«
»Unsinn!«
»Das ist kein Unsinn, Alter! Wir Frauen haben so ein feines Gefühl, weißt Du. Wäre nur sein Gesicht nicht so sehr zerschunden, daß man die Züge sehen könnte.«
»Aber es waren doch seine Kleider!«
»Das ist eben das Sonderbare!«
»Auch hatte er unser Brod einstecken.«
»Daran denke ich auch. Aber ich kann mir den Kopf zerbrechen, ich finde keine Erklärung.«
»So müssen wir eben warten, bis das Gesicht wieder heil geworden ist.«
»Das kann lange dauern. Wenn es doch wenigstens ein anderes Zeichen gäbe, an welchem – Du, Vater, da fällt mir etwas ein, ah, etwas Wichtiges!«
»Was denn?«
»Weißt Du, was dieser Hirsch am Finger hatte?«
»Hm! Einen Ring.«
»An welchem Finger?«
»Am rechten, kleinen.«
»Richtig! Ich besinne mich ganz genau. Wie sah der Ring aus?«
»Er war dünn, hatte aber einen großen, rothen Stein.«
»Dieser Stein funkelte so bei Licht. Wollen wir einmal nach der Hand sehen?«
»Ja, aber nichts sagen.«
Nach einiger Zeit erhob sich die Alte, machte sich in der Nähe des Bettes zu schaffen und kehrte dann zurück.
»Er hat keinen Ring,« flüsterte sie.
»Auch an der Linken nicht? Vielleicht irren wir uns in Beziehung auf die Hand.«
»Er trägt überhaupt keinen Ring.«
»Sollte er ihn verloren haben?«
»Wohl nicht. So ein Ring pflegt fest zu stecken.«
»Du, das kommt mir allerdings nun verdächtig vor! Ich glaube, er ist von dem Sturz sofort betäubt worden, so daß er gleich regungslos gewesen ist. Und doch sah ich ganz deutlich, nachdem ich den gräßlichen Schrei gehört hatte, daß sich etwas an der betreffenden Stelle bewegte. Ob wohl Jemand dagewesen ist und ihm den Ring gestohlen hat?«
»Möglich ist es. Wer aber könnte das gewesen sein?«
»Vielleicht Der, den der Lieutenant in der Nähe getroffen hat. Weißt Du nicht, daß davon gesprochen wurde?«
»Ja. Es ist ein Amerikaner gewesen.«
»Den der Lieutenant für den Hauptmann gehalten hat.«
»Hm! Sonderbar!«
Es entstand eine längere Pause. Der Köhler brummte einige Male vor sich hin, kratzte sich hinter dem Ohre, brummte wieder und wieder, bis das endlich doch seiner Frau zu auffällig wurde. Sie fragte flüsternd: »Was hast Du denn?«
»Einen Gedanken.«
»Na, da giebt es doch nichts zu brummen!«
»Oho! Es ist ein ganz verzweifelter Gedanke.«
»Laß ihn doch hören!«
»Er will nur schwer heraus. Er ist so dumm, aber doch auch sehr gescheidt. Ich weiß nur nicht, welches von Beiden das Richtige ist. Es war eine verflixte Geschichte.«
»Was denn?«
»Wenn der Amerikaner der Hirsch gewesen wäre.«
»Mann, wo denkst Du hin!«
»Und der Kranke hier ist ein Unschuldiger.«
»Wie wäre das möglich?«
»Der Hirsch hätte ihn herabgestürzt.«
»Herrgott!«
»Und nachher die Anzüge gewechselt.«
»Mann, Alter! Ich fürchte mich vor Dir!«
»Na, ich habe ihn doch nicht herunter gestürzt.«
»Aber Du sinnst Dir solche Sachen aus – – Herrgott!«
Die Frau fuhr entsetzt vom Stuhle auf, ihr Mann ebenso. Der Kranke hatte nämlich in diesem Augenblicke, ohne sich nur im Geringsten dabei zu bewegen, einen fürchterlichen Schrei ausgestoßen, einen so entsetzlichen Schrei, daß auch die Krankenpflegerin laut aufgeschrien hatte.
»Mein Heiland!« sagte der Köhler. »Das ist derselbe Schrei, den ich im Walde hörte.«
Sie horchten. Der Kranke war wieder ruhig. Draußen aber knarrte die Treppe, und der Staatsanwalt, der sich nicht entkleidet hatte, trat ein.
»Wer schrie so?« fragte er.
»Hier,« antwortete die Pflegerin, auf den Kranken deutend.
»Sagte er etwas?«
»Nein. Er schrie nur auf.«
»So, so! Ich dachte, es wäre etwas geschehen.«
Es wurde, als er sich beruhigt hatte, in der Stube wieder still. Nur die alte Wanduhr ließ ihr regelmäßiges, monotones Tiktak hören. Die Wärterin nickte leise vor sich hin. Sie war nahe daran, einzuschlafen.
Da begann der Kranke, leise, ganz leise zu wimmern. Es klang fast, als ob er singen wolle. Dann plötzlich
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