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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Drosselader und die Stirnvene,« antwortete Zander. »Versuchen wir es mit der Ersteren.«
    Kaum war die Lanzette in die genannte Ader eingedrungen, so spritzte eine Flüssigkeit heraus, welche einem schmutzigen Wasser ähnlich sah. Zander hielt eins der kleinen Fläschchen hin, bis es voll war. Freilich währte der Erguß dieses Wassers nur wenige Secunden.
    »Blutwasser, welches in einigen Stunden in Verwesung übergehen wird,« sagte der Gerichtsarzt achselzuckend.
    Zander aber trat an das vergitterte Fenster, hielt das Fläschchen gegen das Licht und betrachtete es eine sehr lange Weile. Dann steckte er es ein, trat an die Leiche zurück und zog eine Aderbinde hervor. Da konnte sich sein College nicht halten. Er rief: »Was! Sie verbinden eine Leiche?«
    »Ich verbinde alle drei Oeffnungen, welche ich gemacht habe, denn ich will nicht, daß dieser Mann sich verblute, falls er ja noch leben sollte.«
    »Sie glauben also wirklich noch, daß er leben kann?«
    »Ja, es ist die Möglichkeit vorhanden. Es giebt Gifte, nach deren Genuß sich die Thätigkeit des Herzens gar nicht mehr bemerken und nachweisen läßt, außer wenn man mit einem Messer in das Herz selbst stößt. Das aber würde Mord sein. Hört die Wirkung des Giftes auf, so beginnt die Thätigkeit des Herzens wieder; das Blut erhält seine frühere chemische Zusammensetzung und füllt die Adern, und der Todte steht so ruhig wieder auf, als ob er sich zum Schlafe in’s Bett gelegt hätte. Dieser Fall scheint mir hier möglich. Ich nehme also dieses Blutwasser mit, um es chemisch zu untersuchen. Diese Untersuchung wird uns Gewißheit geben, ob wir es mit einer Leiche zu thun haben oder nicht.«
    Da stieß der Gerichtsarzt ein lautes Lachen aus und rief:
    »Wünsche guten Erfolg, Herr College! Adieu, meine Herren!«
    Dann rannte er fort. Er hätte sich nicht zurückhalten lassen, selbst wenn die drei Herren den Versuch dazu gemacht hätten. Der Staatsanwalt sagte: »Ein Mann, mit dem sich niemals reden läßt. Ich hoffe, daß er thut, was er vorhin andeutete. Man stellt doch lieber eine Kraft an, welche auf der Höhe der wissenschaftlichen Erfahrung steht. Bis wann kann Ihre Untersuchung beendet sein, Herr Doctor?«
    »Binnen drei oder vier Stunden kenne ich die mechanische Zusammensetzung des Blutes; ob das Letztere ein Gift enthält, das werde ich erst morgen wissen.«
    »Sie meinen also, daß wir die Leiche nicht aus sicherer Verwahrung geben?«
    »Ich rathe zur Vorsicht, welche ja auf keinen Fall schaden kann.«
    Als er die drei Verbände angelegt hatte, entfernten sie sich. Im Corridore kam ihnen der Schließer entgegen.
    »Meine Herren,« meldete er, »soeben ist der Apotheker gestorben.«
    »Wirklich!« meinte der Staatsanwalt. »Da sollte der Gerichtsarzt noch da sein.«
    »Er ist noch da. Der Herr Wachtmeister schickte mich zu Ihnen; ich traf unterwegs den Herrn Doctor und führte ihn in die Zelle des Todten. Er befindet sich noch dort.«
    Sie hatten die angegebene Zelle noch nicht erreicht, so trat der Gerichtsarzt heraus. Er sah sie kommen und sagte: »Hier giebt es wieder Blut auf Flaschen zu ziehen, meine Herren. Der Giftmischer ist verschieden.«
    »Ist er todt?« fragte der Staatsanwalt.
    »Ohne allen Zweifel. Vielleicht aber thut der Herr College Zeichen und Wunder und weckt ihn wieder auf.«
    Er eilte fort, die Herren aber traten in die Zelle. Doctor Zander ergriff die Hand Horns, untersuchte Puls und Athem und sagte dann:»Todt! Aber sind wir bei dem Einen vorsichtig gewesen, so können wir es auch bei dem Anderen sein. Da er erst jetzt gestorben ist, wird es genügen, eine Handvene zu öffnen.«
    Er hatte recht. Er bekam so viel Blutwasser als zu einer chemischen Untersuchung genügte, und verband die kleine Wunde mit einer Sorgfalt, als ob er einem Lebenden zur Ader gelassen habe.
    Jetzt wurde berathen, wo die Todten aufzubewahren seien, und der Staatsanwalt bestimmte, daß der Apotheker zu dem Schuster Seidelmann zu schaffen sei. In der Krankenstation waren sie gut aufgehoben. Von einer Flucht war keine Rede, da die Station ja im Gefängnisse lag.
    »Außerdem sind sie ja nackt,« meinte der Assessor. »In diesem Zustande würde es ihnen, falls sie ja wieder lebendig würden, wohl nicht möglich sein, zu entkommen.«
    »Und,« fügte der Staatsanwalt hinzu, »ich werde dem Wachtmeister sagen, daß von Stunde zu Stunde die beiden Leichen revidirt werden. Es handelt sich hier um einen Fall, welcher eine solche Vorsicht entschuldigt,

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