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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Doctor Zander schnell.
    Sein College fuhr mit dem Kopfe zu ihm herum und sagte in höchstem Erstaunen:
    »Ah! Wirklich! Mir vollständig neu!«
    »Aber mir nicht, Herr College.«
    »Wahrscheinlich sind Sie bedeutend älter als ich!«
    »Ich glaube nicht, daß nur das Alter Erfahrung macht. Es kann durch Zufall auch einmal einem Jüngeren ein Blick dahin gestattet sein, wohin ein Älterer noch nicht schaute. Darf ich wohl wissen, wann Seidelmann starb?«
    »Vor über einer Stunde.«
    »Und bereits so steif? So steif wie Knochen! Bitte, fühlen Sie ihn an! Sein Leib greift sich an wie eine Statue aus Stein oder Metall. Grad die ungewöhnliche Schnelligkeit dieser Starre und der hohe Grad derselben erregt mein Bedenken. Ich gestehe aufrichtig, daß sie mir nicht natürlich vorkommt, will aber keineswegs der Competenz meines verehrten Herrn Collegen vorgreifen. Ich spreche nur eine persönliche Meinung aus.«
    Da erklärte der Gerichtsarzt giftig:
    »Und ich bescheinige amtlich, nicht aus persönlicher Meinung, daß dieser Mann hier eine Leiche ist!«
    »Welcher Prüfung haben Sie diese Leiche unterworfen?« fragte da der Staatsanwalt.
    »Derjenigen, welche für mein Urtheil hinreichend ist. Der Mann hat weder Puls noch Athem.«
    »Haben Sie ihm nicht vielleicht eine Ader geöffnet?«
    »Das war überflüssig.«
    »Was meinen Sie, Herr Doctor Zander?«
    »Ich meine, daß es immerhin geboten sein dürfte, nach der Circulation des Blutes zu suchen. Ich möchte den Herrn Collegen bitten, eine Ader zu öffnen.«
    Das brachte den Gerichtsarzt vollends aus dem Häuschen. Er hielt seinen Zorn nicht mehr zurück und sagte: »Meine Herren, ich bitte, mir mitzutheilen, ob Herr Doctor Zander anwesend ist zum Zwecke eines ärztlichen Consiliums mit mir!«
    Da nahm der Fürst das Wort:
    »Ich erhielt die Nachricht von dem bevorstehenden Tode der beiden Gefangenen. Ich hegte Verdacht und begab mich zu Herrn Doctor Zander, welcher mein Vertrauen besitzt. Wir wußten nicht, daß der Herr Gerichtsarzt anwesend sein würde; wir mußten die Umstände nehmen, wie wir sie finden würden. Daher versah sich der Herr Doctor mit den Instrumenten, welche unter Umständen nöthig werden konnten. Das will ich bemerken. Mein Verdacht ist nicht beseitigt worden, sondern er hat sich verstärkt. Das Uebrige überlasse ich dem Herrn Staatsanwalt. Doch bemerkte ich allen Ernstes, daß ein Mann der Wissenschaft sich nie gekränkt fühlen kann, wenn er einen Fingerzeig erhält, der sich nicht auf seine Person, sondern auf die Sache bezieht.«
    Doctor Zander richtete freundlich bittende Worte an den selbstbewußten Collegen; die anderen Beiden sprachen auch zur Sühne, und so konnte er endlich nicht anders, als auf ihre Intention eingehen.
    »Nun gut,« sagte er, »ich will nicht länger widerstreben; aber ich bin überzeugt, daß es vollständig unnöthig ist. Haben Sie den ganzen Aderlaßapparat mit?«
    »Ja, und sogar noch Einiges dazu.«
    »So nehmen Sie selbst die Operation vor; denn ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Leiche zur Ader gelassen und werde es auch künftighin nicht thun. Bitte, bewaffnen also Sie sich mit der Fliete oder dem Schnepper, Herr College!«
    Das war in sehr hörbarem Hohn gesprochen. Zander aber antwortete in überlegener Ruhe, indem er das Etui und einige Fläschchen aus der Tasche zog: »O, über den Schnepper und die Fliete sind wir ja längst hinaus. Wir nehmen die Lanzette.«
    »Schön! Aber wozu die Fläschchen? Wollen Sie vielleicht das Leichenwasser auf Flaschen ziehen?«
    »Warum nicht?«
    »Na, wenn es Ihnen Spaß macht, dann meinetwegen. Also, hier liegt die Basilica-Vene!«
    Er hatte die Hand des Todten ergriffen und deutete auf die Stelle, an welcher die genannte Ader lag. Es war ja eine Zurücksetzung Zanders, wenn diesem dieser Ort erst gesagt und gezeigt werden mußte. Dieser aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen und antwortete: »Erlauben Sie, daß ich lieber die Mediana-Vene nehme; die liegt ja am Bequemsten.«
    Das war eine collegiale Ohrfeige, welche der zornige Mann erhielt. Er trat zurück und schwieg. Zander aber öffnete die Vene.
    »Hm!« sagte er. »Kein Blut, nicht einmal ein Tropfen Wasser! Nehmen wir einmal den Fuß.«
    Auch da gab es keinen Erfolg. Da stieß der Gerichtsarzt ein befriedigtes Lachen aus und sagte:
    »Vielleicht machen die Herren doch nun eine Erfahrung, daß eine Leiche, bei welcher die Todesstarre eingetreten ist, kein Blut mehr haben kann!«
    »Noch haben wir die

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