Der verlorne Sohn
Ihrer Hände, durch das verlockende Lächeln Ihres Mundes!«
Ihr Gesicht war jetzt plötzlich ein ganz anderes geworden. Es erstrahlte in Glück und Freude.
»Sagen Sie die Wahrheit?« fragte sie, indem ihr Athem ihm heiß und würzig entgegenströmte. »Ist das wirklich Ihre Meinung? Bin ich in Wahrheit ein solches Gedicht?«
»In Wahrheit!« antwortete er.
»O, dann bin ich glücklich! Bin ich ein Gedicht, so muß mich der Dichter lieben! Er muß mein werden, und ich bin sein!«
Sie umschlang ihn so eng, daß er sich kaum zu bewegen vermochte. Er fühlte die Formen ihres Körpers durch die durchsichtigen Hüllen hindurch. Ihre Küsse brannten auf seinen Lippen. Er konnte nicht widerstehen. Das glühende Mädchen war für diesen Augenblick seine Herrin geworden.
Er mußte neben ihr sitzen; er mußte ihren Wein, ihre Blicke, ihre Küsse, ihre Worte trinken. Er wurde von ihnen berauscht; es kam eine Art von Taumel über ihn, so daß es ihm war, als ob er sich im Traume befinde. Er erschrak förmlich, als die alte Dienerin eintrat und meldete, daß zwölf Uhr nahe sei.
»Dann muß ich fort,« sagte er, sich von seinem Sitze erhebend.
»Aber Sie kommen wieder?« fragte sie in dringendem Tone. »Wann? Bald?«
»Ja, bald.«
»Uebermorgen? Oder noch lieber, morgen schon?«
»Vielleicht! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Robert!«
Sie umarmte ihn nochmals, legte ihre vollen Lippen auf seinen Mund und schob ihn dann zur Thüre hinaus.
Die Eltern waren zur Ruhe gegangen; die Dienerin mußte ihm den Ausgang öffnen. Als er auf die Straße trat, fühlte er die Kälte der rauhen Winternacht. Er war in einem Augenblicke ernüchtert. Er blieb stehen, warf einen Blick auf das alte, häßliche Gebäude und auf das erleuchtete Fenster von Judith’s Zimmer.
»Hm! Ob ich wiederkomme?« murmelte er. »Ich weiß es nicht.«
Er ging. Daheim angekommen, fand er die Thüre verschlossen. Er hatte zum Glück den Hausschlüssel mitgenommen. Als er an der Thüre vorüber wollte, hinter welcher Felsens wohnten, wurde dieselbe geöffnet. Marie seine Schwester, war es.
»Du noch hier?« fragte er verwundert.
»Ja. Denke Dir, der Wilhelm ist noch immer nicht da!«
»Er arbeitet noch.«
»Er würde uns das wissen lassen. Es muß ihm Etwas begegnet sein!«
»Man darf nicht gleich Arges denken! Warten wir noch ein Stündchen! Ist er dann noch nicht da, so gehe ich in sein Atelier und werde da erfahren, was ihn so lange zurückhält.«
Er stieg nach oben. Die kleinen Geschwister schliefen bereits. Der Vater saß im Lehnstuhle und hustete. Er hatte es vorgezogen, in der warmen Stube zu bleiben, anstatt sich in die kalte Kammer zu legen. Dorthin begab sich Robert; aber er konnte nicht schlafen; er war noch zu sehr in Anspruch genommen von dem Erlebnisse der letzten Stunden. Er ging leise auf und ab, in allerlei fremdartige Gedanken versunken.
Dann trat er zum Fenster. Es war mit dichten Eisblumen besetzt, doch eine Stelle gab es, welche völlig frei vom Eise war. Er blickte hindurch und gewahrte das erleuchtete Fenster da drüben, wo im Palaste des Obersten das Nachtlicht brannte.
»Welch ein Unterschied!« flüsterte er. »Beide prächtig und strahlend, wie die Nacht der Tropen; aber die Jüdin leuchtend wie vulkanische Gluth, welche Schlacken und Asche mit sich führt, und die Tochter der Aristokratie glühend in dem reinen, keuschen Glanze des Sternes, der sein Licht einer unbekannten himmlischen Quelle entnimmt. Sie schläft! Oder sollte sie auch noch wach und munter sein?«
Er nahm sein Fernrohr, zog es aus und öffnete das Fenster. Kaum hatte er die Gläser in die richtige Lage gebracht, so stieß er einen Laut der Ueberraschung aus.
»Was ist das? Ihr Fenster ist offen! Gott, dort steht eine männliche Gestalt! Was hat das zu bedeuten?«
Er blickte schärfer durch das Rohr und ließ es vor Schreck fallen.
»Eine Leiter! Man bricht ein! Ich muß hinüber!«
Er handelte in diesem Augenblicke vollständig instinctiv. Er eilte hinaus in die Wohnstube, sagte kein Wort, um den Vater nicht zu ängstigen, riß das Messer, welches auf dem Tische lag, an sich und schoß die Treppen hinab und zur Hinterthür hinaus. Hier erblickte er die angelegte Leiter.
»Die Diebe sind hier hinüber! Schnell nach!«
Im nächsten Augenblicke war er auf der Mauer und auf der anderen Seite wieder hinab. Er sah nur das offene Fenster; er bemerkte nicht, daß man hinter der Thüre lauschte. Der Wein, den er heute genossen hatte, wirkte noch in seinem,
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