Der verlorne Sohn
wendete sich an den Gerichtsarzt: »Halten Sie die Kette für nothwendig?«
»Unter Umständen, ja.«
»Sie kann aber auch schädlich sein!«
»Wenn er seinen Zustand nicht simulirt, sondern wirklich Schmerzen fühlt, ist sie sogar eine Grausamkeit.«
»Hoffentlich ist es nicht schwer, zwischen der Wahrheit und der beabsichtigten Täuschung zu unterscheiden?«
»Ich hoffe es. Versuchen wir es einmal!«
Er trat näher zu dem Gefangenen heran. Dieser lag, lang ausgestreckt und den Kopf in die rechte Hand stützend, halb auf dem Stroh und halb auf der harten Diele. Seine Augen waren geschlossen, und nicht die mindeste Bewegung zeigte an, daß Leben in ihm sei.
»Bertram!« rief der Arzt, sich zu ihm niederbeugend.
Er erhielt keine Antwort.
»Bertram!«
Der Gefragte blieb stumm wie vorher.
»Berühren Sie ihn einmal,« bat der Untersuchungsrichter.
Der Arzt legte ihm die Hand leise auf den Kopf, aber ohne alles Resultat. Er gab der Hand eine andere Lage und drückte kräftiger. Dabei berührte er die Stelle, welche von dem Todtschläger des Polizisten getroffen worden war, und sofort fuhr der Gefangene mit einem lauten Schmerzensschrei aus seiner liegenden Stellung in eine sitzende empor. Seine Augen öffneten sich und starrten mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke die vor ihm stehenden Männer an.
»Bertram!« wiederholte der Arzt.
»Judith!« flüsterte der Gefangene.
»Kommen Sie doch zu sich!«
»Sie haben uns gerettet!«
»Sammeln Sie sich! Dann werden Sie vielleicht auch jetzt gerettet!«
»O, das viele, blanke Geld.«
Der kranke Geist des Gefangenen beschäftigte sich mit den fünfzig Münzen, welche er von Judith empfangen hatte. Die drei Männer aber gaben seinen Worten eine andere Bedeutung.
»Ah!« flüsterte der Assessor dem Arzte zu. »Geld! Er denkt jetzt an den Einbruch! Sprechen Sie weiter mit ihm!«
»War es denn bloß Geld?« fragte der Arzt.
»Auch eine goldene Kette.«
Der Untersuchungsrichter nickte sehr befriedigt. Er raunte den beiden Anderen so leise wie möglich zu:
»Hören Sie! Auch eine Kette! Er meint auf alle Fälle die kostbare Halskette, welche er in der Hand hatte, als er ergriffen wurde!«
»Und weiter nichts?« fragte der Arzt.
Da der Gefangene nicht antwortete, so ergriff er ihn bei der Schulter, schüttelte ihn leise hin und her und wiederholte: »Weiter nichts als die Kette?«
»Und der Schein! Und das Essen! O, Judith, ich hatte Hunger!«
»Das verstehe ich nicht,« meinte der Arzt, zu dem Assessor gewendet.
»Sprechen Sie nur immer weiter mit ihm,« antwortete dieser.
»Wem gehörte der Schein? Wer gab das Essen?«
»Wer?« fragte Robert langsam und wie abwesend.
»Ja. Und wer ist diese Judith?«
»Judith? Die Fee des Meeres.«
Bei diesen letzten Worten schien ein Strahl von Selbstbewußtsein aus seinen Augen zu brechen. Er breitete die Arme aus, als ob er declamiren wolle und begann zu recitiren:
»Wo keiner Stimme Töne klangen,
Am Grunde der krystallnen See,
Da liegt, vom Schlummer lind umfangen,
Im Zauberschloß, des Meeres Fee.«
Er hielt inne, wie um nachzudenken. Der Arzt schüttelte den Kopf und öffnete bereits die Lippen zu einer Bemerkung; da fuhr Robert fort:
»Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,
Das über ihrem Reiche rauscht,
Wo, von Triton und Elf umgeben,
Sie oft verborgen zugelauscht.«
Wieder hielt er inne. Sein Auge war starr in die Ecke gerichtet.
»Ist das Simulation?« flüsterte der Assessor.
»Wenn das Simulation ist, so ist er ein Meister in der Verstellungskunst, Herr Untersuchungsrichter.«
»Forschen Sie weiter! Ihnen scheint er zu antworten.«
»Bertram, beantworten Sie mir –«
Der Arzt konnte den begonnenen Satz nicht vollenden, denn der Gefangene sprach weiter, und zwar in einem Tone, als ob er von einem schönen, wohlthätigen Traume befangen sei:
»Doch endlich hat auch sie getrunken
Des Lebens und der Liebe Gluth,
Und trägt in sich den Gottesfunken,
Der im erwärmten Herzen ruht.«
Er streckte den Arm aus, als ob er die Gestalt vor sich habe, von der er sprach, und seufzte:
»O Nacht, Nacht, meine Nacht!«
Aber nicht Judith, die Jüdin, sondern eine ganz Andere war seine »Nacht« gewesen. Sein irrer Sinn sprang sogleich zu der Letzteren über. Sein Gesicht zeigte eine entsetzliche Angst, und er rief:»Zurück, Bösewicht!«
Dann sank er wieder nieder in das Stroh, und seine Augen schlossen sich von Neuem. Der Assessor gab den Anderen einen Wink, zurück zu treten, und
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