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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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sagte sich dies nicht deutlich und ausdrücklich, aber er fühlte und er ahnte es.
    Später kam noch ein anderer Gast dazu, dessen Erscheinen Keinem sympathisch zu sein schien – der Baron Franz von Helfenstein. Er war nicht geladen, sondern aus eigener Initiative gekommen.
    Man ging zur Tafel. Robert kam neben die Baronesse Alma von Helfenstein zu sitzen. Sie unterhielt sich mit ihm so freundlich, als ob sie sich ganz ebenbürtig seien und sich bereits sehr viele Male gesehen hätten. Das Auge des Barons Franz hing an ihnen. Was dachte er. Es war klar, daß irgend ein eigenthümlicher Gedanke ihn beschäftigte. Auch der Oberst hatte mit seiner Frau eine halblaute Bemerkung ausgetauscht. Jetzt sagte er über die Tafel herüber zu Baron Franz:»Herr Baron, Sie sitzen gerade am richtigen Orte, um es beurtheilen zu können. Finden Sie nicht auch diese ganz ungemeine Ähnlichkeit?«
    »Welche?«
    »Zwischen Ihrer Cousine und unserem Herrn Bertram?«
    Es war dem Baron, als habe ihm Jemand einen Stich versetzt. Er antwortete im Tone komischer Entrüstung:
    »Da finden Sie wirklich eine Ähnlichkeit?«
    »Allerdings.«
    »Nun, Herr Bertram wird nichts dagegen haben. Wenn auch meine Cousine sich über diese Entdeckung geschmeichelt fühlt, so habe ich natürlich nichts dagegen.«
    Das war eine Beleidigung für Bertram. Dieser fühlte es gar wohl, darum antwortete er:
    »Vielleicht habe ich doch etwas dagegen. Ich gestehe aufrichtig, daß es mir nicht ganz gleichgiltig ist, mit wessen Cousine man mich vergleicht!«
    Es entstand eine sekundenlange Pause. Der Baron entfärbte sich. Jedermann fühlte den Hieb, den er erhalten hatte. Daß dieser Hieb saß, das sah man Demjenigen an, der getroffen worden war.
    »Ah, wohnten Sie nicht in meinem Hause?« fragte er.
    »Ja.«
    »Ihr Vater war der Schneider Bertram?«
    »Allerdings, jener arme, aber brave Schneider Bertram, der sich über nichts so sehr gewundert hat als darüber, daß ein Baron auf das Unglück seiner Abmiether zu speculiren vermag.«
    Dieser Hieb traf noch viel besser als der erste. Der Baron biß die Zähne zusammen. Die Wirthin, welche einen ernstlichen Zwist befürchtete, brachte schnell das Gespräch auf ein anderes Thema; aber die Spannung war vorhanden, und sie blieb bestehen.
    Nach und nach äußerte der Wein seine anregende Wirkung. Man sprach von Kunst und Wissenschaft, von Musik und Theater und blieb längere Zeit bei der Dichtkunst stehen. Der Oberst behauptete, daß der Reim das Schwerste des Dichtens sei; seine Tochter bestritt das. Sie behauptete, daß ein von Gott begnadeter Dichter den Reim spielend überwinde.
    »Nun,« sagte der Fürst; »es ist ja ein Dichter unter uns. Bitten wir ihn den Kampf zu entscheiden!«
    »Ja, Herr Bertram,« sagte Fanny, »wem geben Sie recht?«
    »Beiden,« antwortete er. »Es giebt Dichter, welche schwer mit dem Reime kämpfen mußten, und deren Namen wir trotzdem in erster Reihe nennen, während manchem Dichterlinge die Reime wie Schneeflocken zufallen.«
    »Wie ist es da bei Ihnen?« fragte Alma von Helfenstein.
    »Ich würde zu diesen Dichterlingen gehören.«
    »So reimen Sie leicht?«
    »Sehr leicht. Ich mache mich anheischig, so lange im Reime zu sprechen, wie es gewünscht wird.«
    »Und die Qualität dieser Reime?« bemerkte Baron Franz in spottendem Tone.
    »Würde wohl zu Ihrer Zufriedenheit ausfallen, wie ich den Dichter der Wüstenbilder kenne,« antwortete Fanny.
    »Fast möchte man es einmal erproben!«
    Fanny ließ sich durch den Baron hinreißen.
    »Gut!« sagte sie. »Geben wir Herrn Bertram ein Thema!«
    Dieser Gedanke fand sofort allgemeinen Beifall.
    »Ein Thema! Welches? Welches?« wurde gefragt.
    »Ein Weihnachtsthema,« meinte Alma von Helfenstein.
    »Ja, ja,« wurde rundum beigestimmt.
    Und Fanny fügte hinzu:
    »Das Gedicht muß mit dem Worte des Engels beginnen: Ich verkündige Euch große Freude, und soll sowohl die Weihnachtsfreude als auch das Weihnachtsleid beschreiben.«
    »Was das Weihnachtsleid betrifft,« warf Baron Franz ein, »so möchte ich einen Vorschlag machen.«
    Und als man schwieg und die Blicke Aller sich fragend auf ihn richteten, fuhr er fort:
    »Denken wir uns also Weihnachtsabend. Ueberall herrscht Lust und Freude. Aber da oben in der Zelle sitzt Einer, eines schweren, entehrenden Verbrechens angeklagt. Das böse Gewissen zehrt an ihm, Körper und Geist leiden; er ist krank und stirbt, stirbt grad am Abende des Christfestes. Ist dieses Thema nicht ein außerordentlich

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