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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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doch darüber?«
    »Ich freue mich, wenn ich Dich glücklich sehe, Engelchen. Gott weiß es, wie ich mich grämen würde, wenn Du unglücklich wärst. Was für ein Anzug ist es, den Du erhalten hast?«
    »Ich gehe als Italienerin!«
    »Das kenne ich nicht. Ist es hübsch?«
    »Ach, allerliebst, sage ich Dir! Möchtest Du mich nicht einmal in dem Costüme sehen?«
    »Gar zu gern, wenn ich darf!«
    »Du darfst. Komme nachher herüber, wenn die Eltern nicht mehr wach sind!«
    »Warum nicht eher?«
    »Weil – weil – na, weil ich den Anzug nicht tragen darf, wenn der Vater dabei ist, und –«
    Sie stockte. Eduard aber begriff sie nicht und fragte in seiner Unbefangenheit:
    »Warum soll Dein Vater den Anzug nicht sehen? Ist er denn zu häßlich?«
    »O nein; er ist im Gegentheile gar zu schön, wie ich bereits sagte. Und sodann weißt Du ja, daß der Vater heute schlechte Laune hat. Ich möchte nicht haben, daß er Dich bemerkt. Also komme später; vielleicht in einer Stunde!«
    »Gut, Engelchen, ich komme!«
    Er gab ihr die Hand. Diese war so kalt, so eigenthümlich kalt. Es war nicht die Kälte, welche vom winterlichen Froste kommt, sondern jene schaurige Kälte, welche – – Engelchen entsann sich, daß die Hand ihres Großvaters, als derselbe todt im Sarge lag, sich ganz ebenso angefühlt hatte. Sie zuckte zusammen und zog ihre Hand aus der seinigen, öffnete die Thür und eilte raschen Laufes ihrem Häuschen zu.
    Er stand unter der offenen Thüre und blickte ihr starren Auges nach. Er blickte noch hinüber, als sie schon längst drüben verschwunden war. Er hatte keinen Gedanken, kein Gefühl; aber er wußte, daß er todt sei, todt, gestorben an einem plötzlichen, fürchterlichen Schlage, der auf sein Herz gefallen war.
    Schon als kleine Kinder hatten sie sich gekannt. Er war ihr Beschützer gewesen, ihr Helfer zu aller Zeit. Er hatte nie an die Möglichkeit gedacht, sie auf einen einzigen Tag entbehren zu müssen, denn das lag für ihn ja überhaupt nicht im Bereiche der Möglichkeit. So waren sie aufgewachsen mit und neben einander. Es war ihm nie eingefallen, sich Rechenschaft über sein Herz zu geben; er war sich seines Zustandes nie klar geworden, bis heute mit einem Male zwei Gewißheiten zerschmetternd auf ihn niederstürzten, nämlich, daß er sie liebe, mit jeder Faser seines Herzens liebe, und daß er sie verloren habe, noch ehe er sich dieser Liebe bewußt geworden sei.
    So stand er da. Der eisige Hauch des Winters umwehte ihn; das Vermögen, geordnete Gedanken zu haben, kehrte ihm zurück; in seinen Schläfen klopfte es; sein Herz hämmerte gegen die Rippen; er streckte seine Arme aus und flüsterte: »Angelica, Engelchen! Ich wollte, ich wäre todt!«
    Er lehnte den Kopf an die kalte Thürpfoste und summte wie gedankenlos die Melodie jenes tief innigen Liedes vor sich hin: »Wenn sich zwei Herzen scheiden, die sich dereinst geliebt, das ist ein großes Leiden, wie’s größer keines giebt!« Aber als er bei der zweiten Strophe angekommen, sprach er die halblauten Worte aus:
    »Als ich zuerst empfunden
    Daß Liebe brechen mag,
    War mir’s, als sei verschwunden
    Die Sonn’ am hellen Tag.
    Es klang das Wort so traurig gar:
    Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar.
    Als ich zuerst empfunden,
    Daß Liebe brechen mag.«
     
    Er fühlte, daß es ihm feucht aus den Augen tropfte; er wischte die Thränen fort, aber immer neue drangen nach, bis er, mit dem Fuße auf den Boden stampfend, zu sich sagte: »Sie ist verloren; sie hat einen Geliebten; darum ist ihr Vater so stolz gegen uns. Ich kann nichts dagegen machen; ich habe meine Zeit versäumt und werde nun einsam durch das Leben gehen. Aber als Italienerin muß ich sie sehen, als Italienerin in dem Costüme, in welchem sie an seinem Arme durch den Saal schwebt. Ich werde dann zu derselben Zeit im Webstuhle sitzen – o nein, sondern tief in der Kohlengrube stecken! Oh, Engelchen, warum hast Du mir doch das gethan!«
    Er kehrte in die Stube zurück. Die Seinen standen im Begriff, schlafen zu gehen. Als der Abendsegen gesprochen worden war und sie sich entfernt hatten, setzte er sich einsam an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und ließ die Gefühle, welche in seinem Innern aufgeschreckt worden waren, ohne Widerstand auf sich einstürmen.
    »Oh, diese Hand! Brrr, eine Leichenhand!« hatte Engelchen vorhin, als sie von ihm fort geeilt war, vor sich hin gemurmelt. »So eine Hand ist entsetzlich!«
    Als sie ihre Wohnung erreichte, waren die Eltern noch

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