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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Augen; er fühlte, daß er schwankte, aber es gelang ihm doch, die Thür zu erreichen. Dort drehte er sich noch einmal halb um und sagte:
    »Leb wohl, Engelchen, mein liebes, liebes, gutes Engelchen!«
    Vielleicht wollte er diese Abschiedsworte in einem sanften, zarten Tone sprechen, aber er brachte es nicht fertig. Seine Stimme klang heiser, beinahe kreischend. Er hatte aller seiner Kräfte bedurft, um überhaupt noch sprechen zu können.
    Die Stubenthür schloß sich hinter ihm. Seine Schritte gingen laut und schlürfend nach der Hausthür; es dauerte lange, bis dieselbe geöffnet wurde, und dann schlug er sie mit lautem Schalle zu.
    Sie stand noch an derselben Stelle, auf welcher sie ihm ihre letzte Antwort gegeben hatte.
    »Was ist das?« fragte sie. »War er betrunken? O nein, das ist er all seiner Lebtage niemals gewesen. Es war die Wuth. Der Grimm bringt den Menschen ebenso in’s Taumeln und raubt ihm auch die Stimme, gerade so wie der Schnaps. Nun gut, er soll es merken, daß ich mir aus seiner Wuth nichts, gar nichts zu machen brauche!«
    Sie trat an den Spiegel, betrachtete sich und flüsterte dabei:
    »Ein Mädchen darf ihre Schönheit Keinem zeigen, so hat er gesagt. Bin ich denn schön? Na, ein Bischen hübsch mag ich schon sein, aber schön bin ich gewiß nicht; schön kann nur eine feine Dame sein. Schade um ihn! Er ist ein so bildsauberer, ordentlicher Bursche! Aber die Jähzornigkeit, die ich heute bei ihm gesehen habe, kann eine Frau nur unglücklich machen. Wie gut, daß ich noch zur rechten Zeit dahinter gekommen bin, sonst wäre es vielleicht gar möglich gewesen, daß ich ihn lieb gewonnen hätte.«
    Sie ging hinaus, um zu sehen, ob die Hausthür wirklich in das Schloß gefallen sei; dies war der Fall, dennoch öffnete sie dieselbe; warum, darüber fragte sie sich allerdings nicht um Rechenschaft. Ihr Blick fiel hinüber zum kleinen Nachbarhäuschen. Dort an der Ecke, in sich zusammengesunken, kauerte eine Gestalt, welche keine Bewegung zeigte.
    »Ah, er wartet,« dachte sie, »er meint, daß ich ihm nachlaufen soll, um ihn zurückzurufen und ihm gute Worte zu geben. Aber da irrt er sich gewaltig! Wer mich beleidigt, dem springe ich nicht hinterher. Er hat sich niedergekauert, weil es bitter kalt ist. Nun, er mag frieren. Wenn er merkt, daß ich nicht komme, wird er schon schlafen gehen.«
    Der aber, welcher drüben an der Ecke kauerte, dachte nicht daran, daß sie ihm nachlaufen solle. Er war ein rüstiger Bursche; aber er hatte mehrere Wochen lang bei geringster Kost sich übermäßig angestrengt, und zu dieser körperlichen Schwäche kam nun heute der gewaltige, seelische Schlag. Dem konnte er nicht widerstehen.
    Er kauerte dort lange, lange Zeit. Dann endlich raffte er sich auf und ging in das Haus, um sein Lager aufzusuchen. Dort lag er noch stundenlang wach und in dumpfem Brüten. Der wohlthätige Genius des Schlafes überraschte ihn erst spät, so daß es fast Mittag war, als er erwachte.
    Heute war Sonntag. Als er in das Wohnzimmer trat, war dasselbe gut geheizt, jetzt eine Seltenheit, und vom Ofen her verbreitete sich ein kräftiger, erquickender Fleischgeruch. Die Familie hatte nach langer Zeit endlich einmal wieder ein hinreichendes Sonntagsmahl. Während des Essens sagte die Mutter zu Eduard:
    »Du hast sehr lange geschlafen und weißt also die Neuigkeit noch nicht. Der Bruder des Seidelmann, der heilige Schuster, ist jetzt Vorsteher einer Secte und wird mit der Erlaubniß des Pastors und des Bürgermeisters heute Nachmittag um Fünf im Schänksaale eine Missionspredigt halten. Gehst Du hin?«
    »Ich weiß es noch nicht,« antwortete er einsilbig.
    Nach Tische wanderte er hinaus nach dem Schachte, um mit dem Obersteiger zu sprechen. Er durfte annehmen, daß der brave Förster bereits bei demselben gewesen sei. Dies war auch wirklich der Fall, aber gerade eben als der Obersteiger seine Zusage gegeben hatte, war ein Bote von Seidelmann’s gekommen und hatte den Befehl gebracht, daß Eduard Hauser wenn er ja um Arbeit anfragen sollte, ein für alle Mal abzuweisen sei.
    »Wer hat das befohlen?« fragte der Obersteiger.
    »Der junge Herr; aber der Vater und der Oheim wissen auch davon.«
    Da wendete sich der Beamte achselzuckend zu dem Förster und sagte in aufrichtig bedauerndem Tone:
    »Es thut mir herzlich leid; aber dagegen läßt sich gar nichts thun. Sie kennen die Verhältnisse nicht. Der heilige Seidelmann ist Bevollmächtigter des Herrn Barons, und außerdem sind Verhältnisse

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