Der verlorne Sohn
zu berücksichtigen, von denen ich hier gar nicht sprechen kann.«
Als Eduard kam, sah er seine Hoffnung in Trümmer fallen.
Am Morgen dieses Tages hatten zwei Lastwägen vor der Thüre des Seidelmann’schen Hauses gehalten, von denen eine große Anzahl Webstühle abgeladen worden waren.
»Was willst Du mit dem Zeuge?« hatte der einstige Schuster seinen Bruder gefragt. »Es ist ja alt und abgenutzt?«
Der Fabrikant streichelte wohlgefällig sein Kinn und antwortete:
»Das verstehst Du nicht. Diese Webstühle habe ich aus einer Concursmasse erstanden; das Stück kostet mich zwei Gulden. Wer hier von mir Arbeit haben will, muß seinen Stuhl von mir nehmen, entweder per Kauf oder auf Miethe. Ich verkaufe das Stück zu zwanzig Gulden; die Miethe beträgt sechs Gulden pro Jahr. Wird der Stuhl alt und es bricht Etwas, ist der Miether contractlich gezwungen, mir zwanzig Gulden zu zahlen.«
Der Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit nickte zustimmend mit dem Kopfe und sagte:
»Ein Jeder wuchre mit dem Pfunde, das ihm verliehen ist! Wohl dem, der die Bedeutung der Schriftworte so klar erkennt, daß sie ihm Nutzen bringen!«
Zu derselben Zeit saß der junge Seidelmann im Comptoir und bemühte sich, für den zu erwartenden Maskenball die Figuren einer Polonaise zu Papier zu bringen. In der hintersten Ecke des Raumes stand ein hageres, dürftiges Männchen am Stehpulte und kritzelte lange Ziffernreihen in ein Contobuch. Dieser Schreiber schien nicht sehr gelaunt darüber zu sein, daß er gezwungen war, am Sonntag Vormittage hier zu arbeiten. Er trippelte mit den Füßen; er kaute ungeduldig an der Feder; endlich klappte er das Buch zu und näherte sich dem jungen Prinzipale. Dieser bemerkte das und fragte ziemlich barsch:
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte bitten, mich doch für heute zu entlassen, mein verehrtester Herr Seidelmann!«
»Das geht nicht. Sie werden gebraucht.«
»Ich habe bereits gestern die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß meine Frau schwer krank darnieder liegt.«
»Was geht das uns an! Ihre Tochter mag sie pflegen, oder schicken Sie sie in das Hospital!«
Ueber das hagere, leidende Gesicht des Schreibers flog ein demüthiges, trübes Lächeln. Er antwortete:
»Im Hospital muß ich zahlen, und das kann ich nicht. Meine Tochter pflegt die Mutter bereits, aber sie hat jede Minute ein Ereigniß zu erwarten, welches selbst beinahe eine Krankheit genannt werden kann.«
Dabei richtete sich das Auge des Schreibers forschend auf das Gesicht des Prinzipales. Dieser vermochte nicht, eine leise Röthe zu verbergen, und sagte:
»So rufen Sie nach einem Arzte!«
»Ich habe bereits zu Doctor Werner geschickt, aber er ist bisher noch nicht gekommen.«
»Ich habe das erfahren und ihm verboten, zu Ihnen zu gehen! Was denken Sie denn eigentlich? Ein Comptorist unseres weltberühmten Hauses wendet sich an einen Knappschafts-und Armenarzt! Wir sind ja blamirt für ewige Zeiten!«
»Verehrtester Herr, ich möchte mich ja sehr gern den Ansprüchen Ihres Hauses gemäß verhalten, aber zwanzig Gulden Monatsgehalt bei einer kranken Frau, vier unerwachsenen Kindern und einer Tochter, welche ihrer Entbindung entgegensieht!«
Wieder zeigte sich jene Röthe im Gesicht des Prinzipales.
»Zwanzig Gulden sind vollauf genug!« sagte er. »Man schränke sich mehr ein; man lebe nicht in Sauß und Brauß! Andere Leute müssen auch rechnen, wenn sie auskommen wollen.«
»Und dennoch möchte ich ganz unterthänigst zum dritten Male um eine kleine Gehaltszulage bitten. Ich hoffe, daß ich brauchbar bin!«
»Brauchbar sind Sie, das ist nicht zu bestreiten; aber es ist bei uns Grundsatz, niemals einen Gehalt zu erhöhen. Fängt man bei dem Einen an, so kommen die Anderen auch gelaufen. Legen Sie besonders dem weiblichen Theile Ihrer Familie einige Beschränkung auf, so werden Sie bald bemerken, daß Sie sich besser stehen!«
Das war dem armen Schreiber denn doch zuviel. Er richtete sich auf, soweit es seine Gestalt erlaubte; seine müden Augen funkelten durch die Brille, und er antwortete:
»Gerade auf Veranlassung dieses Theils meiner Familie habe ich mich an Sie zu wenden, Herr Seidelmann. Meine älteste Tochter ist unverheirathet; sie erwartet ihre Stunde, sie erwartet aber auch mit wenigstens derselben Gewißheit Ihre Unterstützung!«
Da sprang der junge Seidelmann von seinem Sessel auf und rief: »Sie erwartet ihre Stunde? Was soll das heißen?«
»Fragen Sie eine Hebamme!«
»Und sie erwartet meine
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