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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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In demselben war nichts als altes, unbrauchbares Gerümpel zu sehen. Und in der Mitte hing an einem Balken ein lockenköpfiger, splitternackter Knabe an einem Stricke. Er war auf den Bauch gelegt worden, dann hatte man ihm die Beine nach aufwärts auf den Rücken gepreßt, so daß die Gelenke eine ganz unnatürliche Lage angenommen hatten. Die Arme waren über die Schultern hinweg über die Füße gezogen worden und mit ihnen fest verbunden. Nun hatte man starke Leinen um die kleinen Gliedmaßen gewunden, damit sie ihre Stellung ja nicht verändern konnten, den Knaben wagerecht an den Balken gehängt und ihm noch zwei schwere Ziegelsteine auf dem Rücken befestigt.
    Vor Frost sah der nackte Körper blauroth aus; blauroth sah das kleine, hübsch geformte, jetzt nach unten gekehrte Gesichtchen, in welches alles Blut stieg, und blauroth hing dem armen Kleinen auch die Zunge aus dem Halse. Vielleicht war er dem Verschmachten oder dem Ersticken nahe.
    An einem Nagel hing eine Hundepeitsche mit sechsfachen Riemen.
    »Verdammte Kröte, willst Du wohl aufhören mit dem Stöhnen!« rief der Riese, indem er eintrat.
    Er riß die Peitsche herab und schlug mit ihr dem Kleinen ein-, zwei-, dreimal von unten herauf über den fest angespannten Unterleib. Das Kind schloß die Augen und zuckte nicht.
    »Hund! Du willst wohl gar thun, als ob Du schon crepirt wärst? Ich werde Dich lebendig machen! Warte! Wie ist’s? Thun Dir die Glieder weh?«
    Der Kleine antwortete nicht. Der Unmensch versetzte ihm noch mehrere Hiebe und drohte dabei:
    »Ich schlage so lange, bis Du redest! Thun Dir die Glieder weh?«
    »Nein,« stöhnte der Gemarterte.
    »Laut!«
    »Nein!« versuchte das Kind in soviel wie möglich gewöhnlichem Tone zu sagen.
    »Das ist Dein Glück, Du Wechselbalg! Ich hätte Dich zu Fetzen zerhauen!«
    Seine Frau war hinter ihm eingetreten und sagte:
    »Willst Du ihn nicht losmachen? Er hängt bereits seit drei Stunden hier. Das muß doch genug sein?«
    »Für die Oberschenkel eigentlich nicht. Er muß ein Kautschuckmann werden, wie es noch nie einen gegeben hat. Ich habe ihn gekauft und will Geschäfte mit ihm machen. Eigentlich sollte er noch zwei Stunden hängen, fünf Stunden täglich, wie bisher immer; aber da er heute Abend mit arbeiten soll, so wollen wir ihn losmachen. Er mag ein halbes Stündchen ausruhen, und dann wollen wir probiren, ob die Pyramide noch geht.«
    Der Kleine wurde von seinen Stricken, Banden und Steinen befreit. Er lag wie leblos auf der Diele. Der Mann stieß ihn mit dem Fuße von sich und ging hinaus; die Frau hockte sich zu ihm nieder und brachte ihr Ohr dem Mündchen nahe, um dem Athem zu lauschen.
    »Mutter, meine gute Mutter!« flüsterte der Kleine.
    »Ja, ich bin Deine Mutter,« antwortete sie in einer Art von Gefühlsregung.
    Da schlug er matt die Augen auf, schüttelte den Lockenkopf und sagte leise und mit sichtlicher Anstrengung:
    »Nein; Du bist meine Mutter – meine Mutter nicht. Ihr habt – habt mich gekauft.«
    »Aber doch bin ich nun Deine Mutter!«
    »Nein! Meine Mutter ist – eine Waschfrau und mein Vater ist ein – ein Holzhacker. Er hat sich – sich in das Bein gehackt, und wir hatten Hunger. Da, da kam der fromme Mann, und ich – ich wurde – wurde verkauft.«
    »Nun ja! Nun gehörst Du uns und mußt uns gehorchen.«
    Er schüttelte das Köpfchen und entgegnete, indem in seine Augen dicke Thränen traten:
    »Ich will zu meinem Vater und – zu meiner Mutter!« Und vor Angst leise, ganz leise fügte er hinzu: »Mich friert – mich hungert – ich habe Durst – oh, mein Kopf, mein Leib, meine Arme, meine Beine!«
    »Schweige um Gottes willen! Sonst kommt er und hängt Dich wieder auf! Zu Deinem Vater und Deiner Mutter kannst Du nicht mehr, die sind gestorben die liegen im Grabe.«
    »Im Grabeloch? Hat man da auch Hunger?«
    »Nein.«
    »Bekommt man da auch Schläge? Wird man da auch zusammengebunden zum Kautschuckmann?«
    »Nein.«
    Da verschwand der Ausdruck der Schmerzen aus seinem Gesichte; ein glückliches Lächeln trat an die Stelle desselben, und das Kind flüsterte: »So will ich auch in das Grabeloch, wo der Vater und die Mutter sind.«
    Was mußte das arme, unschuldige Kind erduldet haben, daß es sich nach dem finsteren Loche sehnte, vor welchem es ein jedes andere Kind fröstelt und schauert?
    »Komm her!« sagte die Frau. »Hier ist Nordhäuser. Ich will Dich einreiben; dann schmerzen Dir die Glieder nicht mehr.«
    Sie that das; aber man sah es dem Kleinen an,

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