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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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lieber Gott, nicht an;
    Habe noch mit mir Geduld,
    Und vergieb mir meine Schuld!«
     
    »Geduld?« Hohnlachte der Kerl. »Ja, die habe ich gehabt! Wahrhaft unmenschliche Geduld! Aber jetzt ist sie alle; jetzt geht sie mir aus! Ich schlage Dich in Stücke, ich schlage Dich todt, wenn Du nicht machst, was ich will! Also, lächle! Lächle, Bube!«
    Der Kleine zitterte am ganzen Körper; aber er nahm sich mit wahrhaft bewundernswerther Selbstbeherrschung zusammen, fuhr sich mit den Händchen einmal über die thränenden Augen und versuchte dann, das verlangte Lächeln hervor zu bringen.
    »Besser!« gebot der Wütherich.
    Der Knabe that sein Möglichstes.
    »Immer besser! Noch freundlicher!«
    Das Gesicht des Kleinen verzog sich zu einer möglichst freundlichen Miene.
    »So recht! Und nun die Verbeugung!«
    Der Gequälte gehorchte dem Befehle.
    »Nicht nach einer Seite, sondern rundum! Schnell, schnell!«
    Diesem Befehle wurde sofort Folge geleistet, denn der Sprecher hatte bereits wieder den Arm erhoben.
    »Schau, wie gut es geht!« höhnte er. »Ja, die Peitsche muß nur dabei sein; da ist der gute Wille sogleich da! Also wieder lächeln! So! Jetzt die Verbeugung! Noch besser! Rundum!«
    Das Exercitium wurde so oft wiederholt, bis der Herr des Knaben zufrieden gestellt war.
    »So!« sagte er dann. »Jetzt wollen wir die Pyramide probiren.«
    Da überlief den Kleinen ein eisiger Schauer.
    »O, nicht die Pyramide!« bat er flehend.
    »Nicht? Ah! Warum nicht Nichtsnutz?«
    »Ich fürchte mich so sehr!«
    »So, so! Warte, diese Furcht will ich Dir sogleich austreiben! Fürchtest Du Dich wirklich?«
    »Ja! Sehr!«
    »Hier!«
    Die Peitsche fuhr mit einem gewaltigen Hiebe auf den Kleinen nieder. Dann fragte sein Henker:
    »Fürchtest Du Dich noch?«
    »Es ist so hoch!« weinte der Knabe, aber nicht laut, sondern gewaltsam unterdrückt, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen.
    »So machen wir es tiefer! Nicht hinauf, sondern von oben herab! So, wie jetzt!«
    Ja, von oben herab sauste die Peitsche nieder.
    »Ist’s noch zu hoch?« brüllte dann der Mann.
    »Nein!« jammerte der Kleine.
    »Fürchtest Du Dich noch?«
    »Nein!«
    »Endlich! Ja, die Peitsche hilft! Na, vorwärts also, Bursche!«
    Er stellte sich mit ausgespreizten Beinen hin, und die beiden Anderen traten hinzu. Sie balancirten sich auf seine Schultern und standen nun, je Einer mit einem Beine auf seiner Achsel und mit dem anderen auf seinem Kopfe.
    »Nun der Junge!« kommandirte er. »Aufgepaßt! Gieb die Hände her, Nichtsnutz!«
    Er ergriff die Händchen des Knaben und schwang ihn empor. Dort wurde der Kleine von den beiden Anderen erfaßt und noch höher geschwungen. Er sollte auf ihren Achseln stehen. Aber man hatte die Höhe des Raumes nicht berechnet; es gab nicht den nöthigen Platz mehr für das Kind, es flog mit dem Kopfe an die Decke und stürzte herab.
    Die beiden Burschen sprangen zu Boden und bückten sich zu dem Kleinen nieder. Der Beherrscher der Truppe aber ergriff die Peitsche, welche er fortgelegt hatte, und schrie: »Weg! Fort von ihm, Ihr Naseweise! Den Kerl kenne ich! Er hat es mit Fleiß gethan! Ich werde ihn aber sogleich wieder lebendig machen!«
    Er schlug zu. Der Knabe war glücklicher Weise weder verletzt noch ohnmächtig. Er war nur vor Schmerz und Schreck regungslos liegen geblieben. Bei dieser erneuten Züchtigung stand er auf.
    »Willst Du das wieder thun?« fragte der Barbar.
    »Nein,« erklang es jammernd.
    »Das will ich mir auch ausbitten! Aber damit Du nicht sogleich wieder auf diesen Gedanken kommst, werde ich Dir einen Denkzettel auf den Rücken geben!«
    Er faßte den Knaben beim Haar und schlug auf ihn ein. Keiner der Anwesenden bemerkte, daß sich die Thür geöffnet hatte. Dort erschien ein Mann. Er war nicht groß und nicht klein, nicht alt und nicht jung, und trug eine blaue Brille, was ihm mit Hilfe des Schnittes seines Anzuges das Aussehen eines Gelehrten gab.
    »Was geht hier vor?« fragte er, einige Schritte näher herbei tretend.
    Sie wendeten sich Alle nach ihm um. Der Director der »Künstlertruppe« maß den Fremden mit zornigen Blicken und sagte: »Geht Ihnen das vielleicht Etwas an?«
    »Natürlich!« antwortete der Gefragte. »Haben Sie vielleicht einmal Etwas von Thierschutzvereinen gehört?«
    »Wozu diese alberne Frage?«
    »Sie ist hier sehr am Platze! Wenn ich sehe, daß ein Thier mißhandelt wird, so habe ich nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, den Thäter anzuzeigen, und er wird

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