Der verlorne Sohn
Zuchthäuslerin gewesen ist und die unglückseligen Folgen der Verurtheilung getragen hat? Wer zählt die Thränen, welche so ein armes Wesen im Stillen weinte? Wer vermag die Summe der Seufzer anzugeben? Wer kann die Verbitterung nachfühlen, welche sich in das Herz einer Unschuldigen einfrißt? Jeden, jeden Augenblick sagt sich so ein beklagenswerthes Geschöpf, daß es unschuldig sei und doch von seiner Unschuld nicht sprechen darf. Ich kann mir sehr leicht denken, daß der Geist eines unschuldig Verurtheilten mit dem fürchterlichen Gespenste des Wahnsinnes zu kämpfen habe.«
»Ja, schrecklich muß es sein, Durchlaucht. Aber Unsereiner ist erstens nicht allwissend und zweitens Beamter.«
»O, es kann Sie ja nicht der leiseste Vorwurf treffen, Herr Regierungsrath! Doch möchte ich Ihnen immerhin die Bemerkung machen, daß es keineswegs unmöglich ist, unschuldig verurtheilt zu werden. Es ist sogar ganz kürzlich der Fall gewesen, daß Einer unschuldig im Zuchthause saß, der sich zu der That bekannt hatte.«
»Kaum denkbar! Kam es hier zu Lande vor?«
»Ja.«
»Nun, dann müßte ich ihn ja kennen!«
»Gewiß. Er war jener Petermann, welcher gleich nach seiner Begnadigung das bekannte Rencontre im Hause der Melitta hatte.«
»Petermann! Ah! Sollte er wirklich nicht der Thäter sein?«
»Nein.«
»Ist der Schuldige bekannt?«
»Ja, aber noch nicht vom Gericht. Der Fall Petermann aber hängt innig mit dem Falle Laura Werner zusammen, wie sehr bald bewiesen sein wird.«
»Durchlaucht, darf ich um Näheres bitten?«
»Ich bedaure! Ich darf dem Richterspruche nicht vorgreifen.«
»Aber Sie kennen meinen Namen?«
»Gewiß.«
»So wissen Sie jedenfalls auch, daß Petermann der Beamte meines Bruders war?«
»Auch das weiß ich.«
»Nun, so bitte ich, mir wenigstens zu sagen, ob hier vielleicht mein Neffe mit zur Nennung kommt!«
»Das wird allerdings kaum zu vermeiden sein.«
»Der Unglückliche!«
Er blickte finster vor sich nieder. Der Fürst konnte die Gefühle des braven Mannes begreifen. Seine Theilnahme bewog ihn daher zu der Bemerkung: »Ich glaube, es verantworten zu können, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Neffe nicht etwa der Schuldige ist.«
»Nicht? Gott sei Dank!«
Er athmete tief und laut auf.
»Nein, nein; so etwas brauchen Sie allerdings nicht zu denken. Er war jung und ist mit einer Person bekannt geworden, welche dieser Bekanntschaft nicht würdig war. Das ist Alles, was er sich vorzuwerfen hat.«
»Also kein Makel an dem alten Namen Scharfenberg?«
»Nein, Herr Regierungsrath. Aber, bitte, die Gefangene! Sie soll keinen Augenblick zu lange in ihrer unverdienten Lage zu verharren haben.«
Der Director klingelte und befahl, nachdem er ein Verzeichniß nachgeschlagen hatte, dem eintretenden Aufseher, die Gefangene Nummer 160 vorzuführen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Laura Werner erschien. Sie besaß eine große Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Emilie; aber ihre Wangen waren eingefallen, und ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Ihr Kopf, dessen Haar verschnitten worden war, steckte in einer unförmlichen, verunstaltenden Tuchhaube, und die Sträflingskleidung, welche sie trug, ließ die Linien ihres Körpers nicht erkennen.
»Hundertsechszig,« sagte der Director zu ihr. »Dieser Herr will mit Dir sprechen.«
Sie erhob den müden, gleichgiltigen Blick zu dem Fürsten. Es war ihr anzusehen, daß sie der zu erwartenden Mittheilung alle Indifferenz entgegenbrachte.
»Es ist Seine Durchlaucht, der allergnädigste Fürst von Befour,« fügte der Director bei. »Du hast den Herrn also Durchlaucht zu tituliren.«
Diese Bemerkung brachte keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes hervor. Der Fürst sagte in mildem Tone: »Ich höre, daß Sie kein Gnadengesuch machen wollen?«
Sie schüttelte still mit dem Kopfe.
»Wollen Sie denn nicht frei sein?«
Sie faltete die Hände und senkte den Blick. Das war ihre ganze Antwort. Der Fürst fuhr fort:
»Ich verstehe Sie. Von Ihrer Unschuld wollen Sie nicht sprechen, weil man Ihnen nicht glaubt. Darum schweigen Sie lieber. Aber bitte, beantworten Sie mir wenigstens die eine Frage: Haben Sie sich das Gesicht jenes Frauenzimmers, von welchem Sie auf dem Kirchhofe überrascht wurden, angesehen?«
»Ja,« antwortete sie in gleichgiltigem Tone.
»Aber wohl nicht sehr genau?«
»Ich konnte mich während der Untersuchung nicht darauf besinnen. Ich war so erschrocken gewesen.«
»So würden Sie es wohl nicht wieder erkennen?«
»O,
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