Der verlorne Sohn
las:
»Bitte, ganz bestimmt heute Abend Punkt zehn Uhr in Ihrer Wohnung zu sein!«
Eine Unterschrift gab es nicht. Der Aufgabeort war halbwegs zwischen dem Gebirgsstädtchen und der Residenz. Daraus ersah der Fürst, daß die Schmiede sich allerdings eines Fuhrwerkes bedienten.
Er fuhr nun nach Hause, legte eine Verkleidung an und begab sich nach dem Helfenstein’schen Palais. An dem hinteren Pförtchen hielt Adolf Wacht.
»Waren Durchlaucht beim Telegraphen?« fragte er.
»Ja. Dein Gedanke war gut. Punkt zehn Uhr Audienz.«
»Freut mich! Die haben wir also! Nehmen wir sie sofort gefangen?«
»Nein. Ich will den Baron heute noch nicht packen. Ich muß erst mit Anton sprechen; dann werde ich wissen, was zu thun ist. Jedenfalls haben die Schmiede ihr Absteigequartier, wo wir sie fassen können.«
Er begab sich nach der vorderen Seite des Palais, wo er Anton fand.
»Ist der Baron daheim?« fragte er.
»Ja. Er wird sich soeben zum Essen begeben.«
»Hat er Gäste?«
»Nein.«
»Ist etwas Ungewöhnliches geschehen?«
»Nein. Ich habe mit meiner Heißgeliebten geplaudert. Das ist Alles.«
Das war eine kleine Vertraulichkeit, welche sich der Fürst gern gefallen ließ, weil er ganz genau wußte, daß diesen Worten eine weit werthvollere Mittheilung folgen werde.
»Gönne Dir das Vergnügen. Doch nicht blos von Liebe?«
»Ich hatte mir kürzlich den Schlüssel zur Hinterpforte bei ihr bestellt, den wir außerordentlich gut gebrauchen können. Hier ist er, Durchlaucht.«
»Das ist prächtig, prächtig! Ob’s aber der richtige ist!«
»Sie versicherte es.«
»So werde ich gleich einmal probiren. Also, Du sagtest, daß der Baron jetzt speise?«
»Er hatte für jetzt das Souper bestellt.«
»Gut. So kann ich in Gemüthlichkeit recognosciren. Punkt zehn Uhr kommen die Schmiede. Bleibst Du hier?«
»Eigentlich wollte die Zofe mich hinaufhaben.«
»So gehe. Es ist vielleicht vortheilhafter für uns. Da aber fällt mir ein: Du warst ja wohl bereits in den Gemächern des Barons?«
»Ja, damals, als ich die Gnädige wegen der Juwelen belauschte.«
»Wie sind die Räumlichkeiten?«
»Ich bin nur bis in die Garderobe gekommen.«
Er beschrieb die Zimmer, soweit er sie gesehen hatte, und sodann begab der Fürst sich zu Leonhardt.
»Ich habe den Schlüssel zu dieser Pforte,« sagte er. »Du wirst jetzt mitkommen, um zu recognosciren.«
Er öffnete. Der Schlüssel that seine Pflicht ohne eine Spur von Geräusch. Als sie die Thür hinter sich wieder verschlossen hatten, zog der Fürst sein chemisches Glaslaternchen hervor. Es entfaltete ein so helles phosphorisches Licht, daß man sich ganz gut zu orientiren vermochte. Sie standen vor einer schmalen, steilen Holztreppe.
»Wir müssen hinauf.«
Bei diesen Worten schritt der Fürst voran, und Adolf folgte. Die Treppe führte zu einem langen, aber nicht breitem Zimmer, in welchem eine Menge von Kleidungsstücken, Perrücken und Bärten hingen.
»Ah, seine Garderobe, in welcher er sich verkleidet!« flüsterte Adolf. »Jedenfalls. Von hier aus tritt er seine heimlichen Ausflüge an. Sehen wir weiter.«
Sie gelangten in das Schlafgemach, welches nicht erleuchtet war, und von hier aus führte eine Portiere in ein Arbeitscabinet, in welchem eine Studierlampe brannte.
»Hier wird er sie wahrscheinlich empfangen,« bemerkte der Diener. »Denn in den Salon wird er sie wohl nicht bringen lassen.«
»Ganz gewiß nicht. Ah! Schau, dort liegt eine offene Depesche! Sehen wir, ob es die richtige ist.«
Er trat hinzu und las.
»Ja, sie ist’s. Und da – ein Extrablatt. Hier steht:
›Wir lassen am heutigen Nachmittage ein Extrablatt erscheinen, um unsere Leser mit einer Tragödie bekanntzumachen, deren Helden die beiden bekannten und berüchtigten Schmiede Wolf aus Tannenstein sind –‹«
Der Fürst las den kurzen, aber bombastisch gehaltenen Bericht bis zu Ende und sagte dann:
»Er weiß also genau, vom wem er die Depesche erhalten hat. Und siehe – dort auf dem Schreibtische steht Wein und dabei liegen Eßwaaren. Ja, er erwartet die Wolfs. Er will ihnen zu essen und zu trinken geben. Hier an der Uhr ist es halb Zehn.«
»Was thun wir?«
»Du gehst zurück, sorgst dafür, daß eine Droschke auf uns wartet und hältst unten an der Thür, welche Du nur anlehnst, Wacht.«
»Und Sie?«
»Ich bleibe hier.«
»Wie gefährlich!«
»O nein. Ich habe diese Menschen auf keinen Fall zu fürchten. Sorge nur dafür, daß die Thür nicht verschlossen
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