Der Vermesser (German Edition)
Schilderung seines eigenen Eindrucks von dem Vermesser hinzu, als dieser völlig verstört und verdreckt aus dem Tunnel gekommen war.
Doch damit begnügte sich der akribische Schreiber keineswegs. Nachdem die Erklärungen abgegeben waren, schlug er dem dankbaren Vorarbeiter vor, May seiner Obhut anzuvertrauen. Und um sodann einer möglichst großen Zahl von ebenso verlässlichen wie geschwätzigen Zeugen Gelegenheit zu einer Aussage zu geben, sorgte er dafür, dass der Vermesser, die Arme von der stinkenden Decke umschlungen, als steckte er in einer Zwangsjacke, und das Haar dreckverkrustet, beim Betreten der Amtsräume in der Greek Street das Zimmer der Schreiber passieren musste. Nachdem das Erscheinungsbild des Vermessers wie gewünscht allerlei Bekundungen des Abscheus hervorgerufen hatte, ließ Spratt ihn wieder gehen. Doch die Sache war für ihn noch nicht abgeschlossen. Mit dem gespielten Ausdruck tiefer Besorgnis auf seinem hinterhältigen Gesicht sprach er bei Mays Vorgesetzten vor und zog insgeheim Erkundigungen über den Sinn und Zweck von Mays Aufenthalt im Untergrund ein. Innerhalb kurzer Zeit fand Spratt heraus, dass der Vermesser sich mittels Täuschung Zugang zum Tunnelnetz verschafft hatte und es keinen rechtmäßigen Grund für seine dortige Anwesenheit gab. Solcherart gerüstet, verlangte Hawke mit Lovick zu sprechen.
Allerdings erwies sich das als unnötig. Durchgefroren und erschöpft, kotverklebt und unfähig, das hektische Zittern seiner Glieder abzustellen, hatte William keine Kraft mehr zu kämpfen. Er war geschlagen. So lange hatte der Irrsinn an seinem Hirn gezerrt und gezogen, dass die weiche Masse aus ihrer Verankerung gerissen war. Er hatte nicht das mindeste Bedürfnis, sich zu schneiden. Denn wenn er sich schnitt, würde er wieder etwas fühlen. Allein schon der Gedanke daran war ihm unerträglich. Stattdessen wünschte er, er hätte Laudanum oder Chloral oder irgendetwas, das ihm Schlaf brächte und vielleicht die Angst betäubte. Ja, mit einer ausreichenden Menge würde er vielleicht für immer aufhören, etwas zu fühlen. Und nichts wünschte er sich sehnlicher als das.
Mit dem letzten Rest an Kraft, der ihm geblieben war, schleppte sich William zu Lovick. Der Sekretär im Vorzimmer zuckte bei seinem Anblick zurück, presste sich ein Taschentuch an den Mund und hieß ihn mit erstickter Stimme warten. William hörte ihn nicht. Ohne anzuklopfen, taumelte er hinein. Lovick war in ein Gespräch mit Grant vertieft; die beiden Männer standen über eine Karte gebeugt, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lag. Sie blickten hoch, als William ins Zimmer wankte.
»May, was zum Teufel …?«
William wandte sich in die Richtung, aus der Lovicks Stimme kam. Er hatte die Augen zwar offen, aber sie blickten ins Leere wie die eines Blinden. Als William zusammenbrach und, am Boden liegend, seine zuckenden Knie umklammerte, rief Lovick laut ins Vorzimmer um Hilfe. Die Stirn vor Ekel und Erstaunen in Falten gelegt, starrte Grant William nur an.
»Helfen Sie mir!«, flehte William mit so leiser und brüchiger Stimme, dass man es kaum vernahm. »Helfen Sie mir, ich bitte Sie!«
»Was zum Teufel …!«, hauchte Grant hilflos. Aber Lovick hatte sich bereits wieder gesammelt. Er trug seinem Sekretär auf, Mr. May in einen Nebenraum zu bringen, wo man ihn gefahrlos verwahren könne. Dann schickte er nach Dr. Feather.
Es dauerte keine Stunde, bis der Arzt eintraf. Für den Fall des Falles brachte er zwei stämmige Gehilfen mit, aber zu ihrer offensichtlichen Enttäuschung war kein körperlicher Zwang vonnöten. William schien ein wenig zusammenzusinken, und seine Hände zitterten stark, als er seine Unterschrift leistete, doch er schlüpfte so bereitwillig in die Ärmel der Zwangsjacke, als wäre sie von einem guten Schneider eigens für ihn gefertigt worden. Als Hawke an Lovicks Tür pochte, auf die Dringlichkeit seines Anliegens verwies und auf einer umgehenden Unterredung bestand, saß William bereits in einer Kutsche und war auf dem Weg nach Hounslow, einer kleinen Ortschaft ein paar Kilometer westlich der Hauptstadt. Dort befand sich eine private Irrenanstalt, die keine offizielle Bestätigung für die Geisteskrankheit ihrer Patienten verlangte und deshalb schon seit langem von ehrbaren Familien bevorzugt wurde, die peinliches Aufsehen vermeiden wollten. Man könne deshalb darauf vertrauen, versicherte Feather Lovick, dass auch in diesem Fall äußerste Diskretion gewahrt werde. Natürlich
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