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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Duschbädern erwies sich häufig als wirkungsvolles Mittel, die fiebrige Hitze des Irreseins abzukühlen. Manche Patienten ließen dennoch nicht davon ab, leidenschaftlich und oft auch gewaltsam Widerstand zu leisten, doch war dies nicht die Mehrheit. Dank einer Ernährung, die reich an Beruhigungsmitteln und arm an Nährwert war, strahlte das Irrenhaus eine Atmosphäre schläfriger Ruhe aus; Gleichmaß und tägliches Einerlei waren das oberste Gebot. Die Patienten erhielten weder Bleistift noch Papier, denn deren Gebrauch hätte zu übermäßiger Erregtheit führen können, und Bücher und Zeitungen waren nur eingeschränkt zugänglich. Den Patienten war ausdrücklich verboten, von sich selbst zu sprechen, galt es doch als wissenschaftlich erwiesen, dass einem Hysteriker zuzuhören nur seine morbide Selbstüberschätzung steigerte. Zwar herrschten strenge Regeln, was die Befugnisse der Pfleger betraf, doch da Männer, die diese schwierige Aufgabe übernehmen wollten, nur schwer zu finden waren, erachtete es die Verwaltung als sinnvoll, den Pflegern beträchtlichen Spielraum bei der Auslegung dieser Regeln zu gewähren. Nicht nur dass es zu wenig Pfleger gab, auch das potenziell unberechenbare Wesen der Patienten galt es zu bedenken. Außerdem verfügte die Anstalt nur über zwei fest angestellte Ärzte, die zwar jederzeit bereit waren, persönlich und mit gebotenem Ernst mit denjenigen zu sprechen, die die Kosten für die Patienten zu tragen hatten, jedoch häufig außerhalb der Anstalt zu tun hatten. Mit den einzelnen Patienten beschäftigten sie sich meist nur wenige Minuten pro Woche. Und so kam es, dass die Pfleger die eigentlichen Herren der Anstalt waren und jede Krankenstation ein eigenes kleines Fürstentum darstellte, in dem die besonderen Vorlieben des jeweiligen Pflegers Gesetz waren.
    An seinem ersten Morgen in Hounslow wurde William nur mühsam wach. Vom Chloral schmerzten ihm Augen und Schädeldecke, und seine gefesselten Arme waren schwer und taub. Er atmete tief ein, doch trotz der eisigen Kälte roch die Luft ranzig und abgestanden. Stimmen waren zu hören und das Geräusch schwerer Schritte. Noch bevor er die Augen aufschlagen konnte, wurde ihm der Kopf angehoben und mit Gewalt ein Blechlöffel zwischen die verklebten Lippen geschoben. Der Löffel stieß ihm gegen die Zähne, wurde wieder herausgezogen, und als William ins Kissen zurückfiel, würgte es ihn so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten. Durch den Tränenschleier nahm er einen Mann wahr, der sich halb weggedreht hatte. Seine Schultern hingen schlaff herab, und er hatte grau meliertes Haar. Dann schlief William wieder ein.
    Erst viel später wurde er erneut wach. Der Schlaf hatte keine Erholung gebracht. Noch immer pochte der Schmerz in seinen Schläfen, er fühlte sich gereizt und ausgelaugt. Aber seine Hände waren frei. Ganz vorsichtig und unter Aufbietung seiner ganzen Kraft hob er den Kopf. Er befand sich in einem kleinen Zimmer von etwa fünfzehn Quadratmetern, in das man acht schmale Betten gequetscht hatte. Die Wände bestanden aus flüchtig getünchtem Backstein, und es gab ein einziges kleines, vergittertes Fenster. Ein Kamin war nicht vorhanden. Außer einem einladend wirkenden Sessel, der unverhältnismäßig viel Platz beanspruchte, waren die Betten die einzigen Möbelstücke. Der Sessel war leer, während in den meisten Betten Männer lagen, die sich nicht rührten, die Augen geschlossen oder den Blick an die Decke geheftet. Ein weiterer Mann hockte in dem engen Gang zwischen den Betten und umklammerte die Eisenstäbe von Williams Bettgestell. Wie alle anderen trug auch er einen Kittel, der jedoch verschmutzt und bis über die Hüfte hochgezogen war. Darunter war er nackt. Er war erschreckend dünn. Seine Nase ragte wie ein gekrümmter Finger aus dem Gesicht, und seine fahle Haut war übersät mit tief eingegrabenen Pockennarben. Aber er hatte klare, strahlend blaue Augen, und als er den Kopf zurückwarf, erleuchtete das blasse Tageslicht sein Gesicht. Es war erfüllt von einer Art überirdischer Ekstase. Der Mann ließ die Stäbe los, reckte verzückt die Arme in die Höhe und beschwor emphatisch die Herrlichkeit des allmächtigen Gottes. Als seine Worte in frohlockender Anbetung aus ihm herausströmten, spürte William plötzlich einen Stich. Das Bewusstsein, dass er etwas verloren hatte, war so schmerzlich, dass er am liebsten laut aufgeschrien hätte. Eine Schwindel erregende Dunkelheit erfasste ihn, und er kniff

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