Der Vermesser (German Edition)
gleißend helle Wintersonne blenden.
Er war nicht verrückt. Aber in die leeren Stunden unter Wasser sickerten Erinnerungen und Träume ein und drückten seiner Einsamkeit ihren grellen Stempel auf. Eines Abends, es war schon spät – oder war es frühmorgens?, er wusste es nicht –, hatte er, als er sich auf die andere Seite drehte, für einen flüchtigen Moment das Gefühl, Pollys karamellfarbene Augen spähten durch den Spalt in seiner rostigen Tür und er hörte das sanfte Murmeln ihrer Stimme inmitten der bestialischen Schreie der anderen Gefangenen. Aber als er ihren Namen rief, polterten als einzige Antwort die harten Stiefelschritte des Wärters durch den eisernen Korridor. Das alte brennende Verlangen stieg in ihm auf, so jäh, dass sich ein Schrei seiner Brust entrang und seine Haare bis zu den Wurzeln von schwarzem Feuer entflammt wurden. Die Wände der Zelle waren vom Rost zerfressen. William presste die Fingerknöchel dagegen und rieb seine Wangen daran, bis sie aufgeschürft waren, als die Gier, sich mit dem Messer zu ritzen, übermächtig wurde. Mit den Fingernägeln über die Wand kratzend, mühte er sich hoch und ließ die Metallfesseln an seinen Gelenken scheuern, bis seine Haut brannte. Aber noch immer kein Blut. Er schloss die Augen. Die Begierde war jetzt so heftig, dass er förmlich das geschwungene Heft des Messers in seiner Faust spürte. Er packte es fest und stach zu, wieder und immer wieder. Das Gesicht sah ihn an, geisterhaft bleich, die Augen schwarze Höhlen. Er ließ die Hände sinken, zu Fäusten geballt, und biss sich auf die Zunge. Zuerst schmeckte er nur den schwarzen rußigen Staub seines Speichels. Dann füllte sich sein Mund mit Blut, warm und rot schoss es aus seiner Zunge, rann ihm über die Lippen und tropfte ihm triumphierend das Kinn hinunter.
Polly hörte den Schrei, als sie dem Wärter voraus zur Zelle lief, aber sie sagte nichts. Sie hielt sich das Taschentuch an den Mund gepresst. Vor Ungeduld hätte sie den Wärter fast angeschrien, der sich ungeschickt an der verriegelten Käfigtür zu schaffen machte. Den Saum ihres sorgfältig sauber gebürsteten Kleids verunstaltete ein Fleck. Ein besseres besaß sie nicht. Sie hätte niemals kommen sollen. Jetzt wollte sie nur noch fort von hier und sich in das geschäftige Treiben draußen auf der Straße stürzen, um zu vergessen, was sie gesehen hatte.
»Wollen Sie wirklich nicht, dass ich ihn wecke?«, fragte der Wärter noch einmal. Er runzelte die Stirn, als der Käfig erzitterte und scheppernd nach oben ruckelte.
Polly schüttelte den Kopf. Etwas an der Art und Weise, wie der Anwalt gesprochen hatte, ließ sie nicht mehr in Ruhe. Vor seinem Auftauchen war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen, so wie sie das Haus in Lambeth abgeschlossen hatte, nachdem sie Stück für Stück alles, was ihr gehörte, und damit sich selbst daraus entfernt hatte, bis die Zimmer leer und dunkel waren. Doch der Anwalt hatte etwas in ihr wachgerufen, eine winzige, flackernde Binsenlampe, die nicht mehr erlöschen wollte. Und so war sie gekommen. Wie er sie angesehen hatte, wie ein wildes Tier – sie wagte gar nicht daran zu denken. Sie hielt sich die Hand vor die Augen, um ein anderes Bild heraufzubeschwören, das Bild Williams in seinem Lehnstuhl in Lambeth, Di auf dem Schoß. Die Öllampe flackerte und warf einen rußigen Lichtschein auf das Bilderbuch, das er mit dem Jungen betrachtete. Sie berührte ihn an den Schultern, und er sah zu ihr hoch, der Blick ruhig und gelassen; er trug einen gestärkten weißen Kragen und lächelte sanft. Hinter ihm kniete das Mädchen vor dem Kamin und rieb den Rost mit Ofenschwärze ein.
Die ruckartige Bewegung des Käfigs raubte ihr fast das Gleichgewicht, und sie musste sich an den Gitterstäben festhalten. Trotz des Taschentuchs drang ihr der bestialische Gestank, der hier im Gefängnis herrschte, in die Nase. Neben seinem Holzteller hatte ein Eimer ohne Deckel gestanden, in dem seine Exkremente schwammen. Er hatte sich auf die andere Seite gedreht, mit rasselnden Ketten an den Füßen – als wäre er einer jener schmutzstarrenden Bären, die im Zoo gehalten wurden. Er hatte sie angesehen, als wollte er sie verschlingen.
»Ein langer Weg«, meinte der Wärter kopfschüttelnd. »Für nichts und wieder nichts. Die meisten Angehörigen wollen sich wenigstens verabschieden.«
Polly schwieg lange. Als sie schließlich den Mund aufmachte, musste der Wärter die Ohren
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