Der Vermesser (German Edition)
gewissen Mr. Rose. Sind ein Herz und eine Seele, dieser Mr. Rose und ich. Und Mr. Rose würde sich den Fuß dafür ausreißen, dass er kriegt, was ich habe. Falls der Captain nicht aufkreuzt.«
»Mr. Rose«, wiederholte Brassey im Flüsterton.
»Richte ihm das aus, Brassey. Und zwar genau so. Wenn du ihm das ausrichtest, wer weiß? Vielleicht verzichte ich dann sogar darauf, dir heimzuzahlen, dass du mich beschissen hast, du dreckiges Stück Kloakenscheiße.«
Tom trat von der Planke herunter. »Aber an deiner Stelle würd ich mir nicht einbilden, schon aus dem Schneider zu sein«, fügte er bedächtig hinzu. »Heutzutage kann man sich ja auf nichts mehr verlassen. Selbst wenn man Brief und Siegel hat.«
Tom bückte sich, schleuderte die Planke in den Dreck und ließ Brassey auf der Türschwelle stehen, vor ihm ein Meer aus Schlamm und Matsch.
»Noch was. Sollte dir einfallen, jemand mit dem Captain mitzuschicken oder mich sonst wie austricksen zu wollen, hacke ich dir die Finger einzeln ab und verfüttere sie an deine Ratten.« Ein Grinsen, breit wie das einer Bulldogge, überzog Toms Gesicht und entblößte seine schwarzen Zahnstummel. »Und der Spaß wird dich schön was kosten. Ein Penny pro Paar, drunter mach ich’s nicht.«
XXXV
W illiam lag rücklings im schmutzigen Stroh, die gefesselten Füße schmerzhaft unter dem Körper verdreht. Es war bitterkalt. Der Hunger krampfte ihm den Magen zusammen und nagte an seinen Knochen. Wenn er versuchte aufzustehen, wurde ihm schwindelig. Ohne die angeketteten Fußeisen, die ihn am Boden festhielten, hätte er das merkwürdige Gefühl gehabt, nach oben zu treiben, sich in der verpesteten Luft hier unter Wasser im Bauch des Schiffes in Rauch aufzulösen. Seitdem der Anwalt bei ihm gewesen war, hatte William sich mit der ganzen Kraft seiner Fantasie vorgestellt, welche Erkundungen der Mann einholen, welche Nachforschungen über Williams Charakter er anstellen und welche Beweise er finden würde, um ihm, William, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie ein Verhungernder hatte er sich gierig an diese Hoffnung geklammert, ohne zu wissen, dass Hoffnung wie verdorbenes Fleisch war und von Würmern wimmelte, die sich auch an ihm gütlich tun würden. Doch der Anwalt war nicht wiedergekommen. Jetzt fühlte sich William leer, sein Körper, ja sein ganzes Gehirn waren wie ausgepumpt. In weiter, unerreichbarer Ferne zogen Gedanken durch seinen Kopf gleich den Wolken weit oben am Horizont, die flüchtige Schatten warfen, bevor sie verschwanden. Selbst seine Träume waren fadenscheinige, instabile Gebilde, leicht wie Spinnennetze, die dem beharrlichen Schlagen der Flutwellen gegen den Schiffsrumpf und dem Kreischen der Ketten, wenn der Eisenkäfig hinauf- oder heruntergelassen wurde, keinen Widerstand entgegensetzten. Wenn in den unheilvollen Stunden vor dem Morgengrauen auf dem Schiff eine gespenstische Stille eintrat, führte William leise Selbstgespräche und fand Trost im vertrauten Klang der eigenen Stimme und der sicheren Gewissheit der Worte. Seine Zunge, seinen Atem, die Fähigkeit, Laute zu artikulieren – das konnte man ihm nicht rauben. Auch wenn man ihn gefesselt hatte wie ein Tier und ihn in seinem eigenen Dreck liegen ließ, redete er doch wie ein Mensch. Er murmelte die Worte in die hohle Hand, reihte sie aneinander wie Perlen, die Augen geschlossen und seinem warmen Atem nachspürend. Diese Worte trugen ihn voran in einem gleichförmigen Rhythmus wie die ratternden Räder eines Dampfzugs.
Ich lebe. Alles wird gut werden. Alles wird gut werden. Ich lebe. William May. William May. William May.
Der Anwalt kam nicht wieder. Im grauen Dämmerlicht des Unterdecks glitt William vom Schlaf ins Erwachen, ohne das eine vom anderen unterscheiden zu können. Die Zeit huschte vorüber. Mittags hörte er das Läuten der Glocke zum Zeichen, dass Brot verteilt wurde, und er wusste, ob es frühmorgens oder Mitternacht war. Welcher Tag war, wusste er nicht. Der Anwalt ließ ihm mitteilen, dass sein Fall weiter untersucht würde und Grund zu vorsichtiger Hoffnung bestehe. William durfte den Brief nicht sehen. Er wurde ihm vorgelesen, von einem Wärter, der über die Worte stolperte und nach jeder Silbe Luft holte, als brächte er dem Krämersohn das Lesen bei. William lauschte, und die Hoffnung fuhr ihm in die Eingeweide. Ein Gerichtsverfahren konnte er sich schon gar nicht mehr vorstellen. Wenn man ihn aus seinem Grab hier unten im Bauch des Schiffes holte, würde ihn die
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