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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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weggedriftet.
    Worte verloren ihren Sinn. Farben verblassten oder verschwam-
    men ineinander. Es fiel ihm schwer, alltägliche Gegenstände wie-
    derzuerkennen. Manchmal wusste er nicht mehr genau, wer er
    war. An anderen Tagen wiederum war sich William sicher, dass
    er im Begriff stand zu verschwinden, auseinander zu fallen und
    sich aufzulösen, bis er nur mehr trockener Sand war, der durch
    die Ritzen zwischen den Bodendielen sickerte.
    Außer wenn das Verlangen kam. Ihn mit seiner Flammen-
    zunge leckte und von Ekstase flüsterte. Seine Macht überwältigte
    ihn. Er hatte keine Hoffnung, ihm widerstehen zu können, und
    er wollte es auch gar nicht. Das Verlangen war das, was der Hoff-
    nung am nächsten kam. Wenn es in ihm aufzuflammen begann,
    taute die eisige Finsternis ein wenig auf. In seinem flackernden
    Licht konnte er endlich den Menschen in sich spüren, einen
    Menschen, der trotz allem noch am Leben war.
    Williams Atem ging rasch, und das Herz zuckte in seiner
    Brust. Sein Kopf war leer wie ein Ballon, der nur mit einer
    Schnur an seinem Körper befestigt war, so dass er dessen Bewe-
    gungen wie aus weiter Ferne zu beobachten schien. Aber seine
    Haut prickelte vor Angst und im Vorgefühl der Ekstase. Rasch
    arbeitete er sich um die Steinblöcke herum, stemmte mit der
    Messerspitze Backsteine heraus. Es dauerte nicht lange. Der
    Mörtel in diesem Teil des Kanalsystems war weich wie Wund-
    brand. Jeden Backstein, den er herausgehebelt hatte, warf er dem
    sich verengenden Tunnel ins Maul. Das schwarze Wasser ver-
    schlang die Steine ohne einen Spritzer. Die Haut auf der weichen
    Unterseite seines Arms kribbelte und brannte unter dem Stoff
    seines Hemds.
    Als das Loch groß genug war, setzte er sich und stellte die La-
    terne neben sich ab. Die Klinge des Messers zitterte, als er sie ins

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    Licht hielt. Mörtelreste klebten an dem Gitterwerk aus winzigen
    Kratzern, das vom Wetzstein stammte. Der Mörtel aus den Ab-
    wasserkanälen war voller Krankheitserreger, so viel hatte ihn
    seine Tätigkeit in Skutari gelehrt. Sorgfältig wischte William die
    Klinge mit einem großen sauberen Tuch ab. Er hielt sich das
    Messer nah vors Gesicht und fuhr mit dem Daumen über die
    Schneide, um ihre Schärfe zu prüfen. Mit einem Mal stieg das
    Verlangen wieder in ihm auf, diesmal mit solcher Wucht, dass
    sich ihm die Haare an Nacken und Armen sträubten. Seine Fin-
    ger zitterten vor Erregung. Er klemmte sich das Messer zwischen
    die Zähne, faltete das Tuch zweimal der Hälfte nach zusammen
    und legte es sich als Stoffpolster auf den Schoß. Dann knöpfte er
    die Manschette auf und rollte den Hemdsärmel bis über den Ell-
    bogen hoch. Behutsam, aber ohne hinzusehen, glitt er mit den
    Fingerkuppen über die Unterseite des Unterarms. Wenn er hin-
    sehen würde, wäre er nur abgelenkt. Und die Reinheit des ersten
    Moments wäre dahin. Danach fühlte er sich jedes Mal für eine
    Weile vollständig geläutert, ganz er selbst, ja sogar glücklich.
    Dann gelang es ihm eine Zeit lang, sich einzureden, er werde nie
    mehr hierher kommen, es sei vorbei, für immer zu Ende. Aber
    tief im Innern wusste er, dass es nie aufhören würde.
    Es war so weit. Er war bereit. Er c
    s hob die Bl n
    e d
    e seiner La-
    terne zu.
    Die Dunkelheit schlug über ihm zusammen. Er schloss die
    Augen, obwohl es keine Rolle mehr spielte, ob er sie offen oder
    geschlossen hielt. Hinter den Lidern und nunmehr ohne Verbin-
    dung zu den Bewegungen seiner Hände und seiner gespenstisch
    weißen Nasenspitze löste er sich von sich selbst. In der Finsternis
    spürte er, wie sich das Leben in ihm beschleunigte. Oben, in der
    endlosen Hast und dem Lärm der Stadt, wurde das Licht dieses
    Lebens immer schwächer, sein Wärmekreis so unendlich klein,
    dass man hätte glauben können, es sei vollständig ausgelöscht.

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    Aber hier unten, in der völligen Dunkelheit, unter den Rädern,
    den Hufen und den Nagelschuhen, wo er knietief in den Aus-
    scheidungen der größten Stadt auf Erden stand, fand Williams
    Geist Freiheit. Hier, wo es kein Leben gab, keine Wärme, nichts
    als den Ekel erregenden Fäkaliengestank – hier fand sein Geist
    seinen Sauerstoff, so dass er neu entflammen und dem gefühllos
    hingegebenen Leib seine lebendige Form aufprägen konnte.
    Hier lehnte er sich auf, verschaffte er sich Gehör. William May
    war nicht tot! Er musste lediglich das Blut in den Adern reinigen,
    die Luft in den Lungen, sie von der schwarzen Fäulnis befreien,
    die

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