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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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sie vergiftete und alles infizierte, was mit ihr in Berührung
    kam. Wenn er nur diesen Unrat, dieses Gift fortspülen und an
    seiner statt einen Quell klaren, reinen Blutes, klarer, reiner Luft
    entspringen lassen könnte, der Heil und Leben spendete ...
    Wie im Traum hob William das Messer. Den beinernen Knauf
    fest umklammert, schnitt er sich in den Arm.
    Der Sinnestaumel setzte ein wie eine Explosion. William
    drängte es zu lachen, zu weinen, laut zu schreien. In diesem voll-
    kommenen Augenblick der Ekstase nahm er wieder ganz von
    sich Besitz. Er war wieder er selbst. Die Erlösung war köstlich. Er
    schnitt sich noch einmal, diesmal tiefer, und spürte, wie er von
    einer Ruhe erfüllt wurde, die zugleich friedlich und triumphal
    war. Blut schoss aus den langen Schnitten und tropfte auf das
    Tuch in seinem Schoß. Er verrieb es über die Haut. Es war warm,
    real, wunderbar. Einem plötzlichen Drang nachgebend, hob er
    den Arm an den Mund und leckte an dem Blut. Es schmeckte
    herrlich. Er leckte erneut. Der Schmerz war nun außerhalb seiner
    selbst, wo er sicher mit ihm umzugehen wusste. Er war wirklich,
    fest umgrenzt. Etwas, an das er sich halten, das er kontrollieren
    konnte. Der Sand seines sich auflösenden Ichs rann ihm nicht
    mehr durch die Finger. Stattdessen begannen sich die Körnchen
    wieder zusammenzufinden, zu einem festen Ganzen zu fügen.

    19

    Das trübe Zwielicht in seinem Kopf verdichtete sich, wurde im-
    mer dunkler, bis in dessen Zentrum ein einziger heller Licht-
    strahl aufleuchtete. Die Muskeln seiner Schenkel spannten sich,
    als er die Füße gegen den schartigen Ziegelboden drückte. Er
    fühlte sich stark und bei klarem Verstand. Ein letztes Mal noch
    schnitt er sich, und der Schmerz stieg triumphierend aus seinem
    Fleisch auf. Er fing das Blut mit der Hand auf und schloss sie, so
    dass es ihm durch die Finger rann. Vor reinem Glück hätte er am
    liebsten laut aufgeschrien. Ich lebe!, wollte er schreien, bis die
    Dunkelheit seine Worte zurückwarf und die Backsteine in ihrer
    Mörteleinfassung vor dieser unumstößlichen Gewissheit beb-
    ten. Ich, William Henry May aus der York Street 8, bin am Leben!

    20

II

    D er Langarmige Tom legte den ergrauten Kopf in den Nacken
    und schnupperte. Einst, es war inzwischen schon lange her, hatte
    Joe sich einen Spaß daraus gemacht, Tom wegen diesem Ge-
    schnuppere aufzuziehen und ihn den Langnasigen Tom, Tom
    Hundeschnauze oder einfach nur Hund zu nennen, damals, als
    Tom noch sehr wortkarg war. Joe hatte nicht glauben wollen,
    dass dieses Schnuppern zu irgendetwas gut sei, bis sie es drüben
    am King̕s Cross nur deshalb noch rechtzeitig aus dem Tunnel
    geschafft hatten, weil Tom denaufziehenden Regen gerochen
    hatte; die anderen Kerle waren in dem überschwemmten Kanal
    ertrunken. Seitdem dachte er anders darüber, obwohl es ihm ein
    Rätsel blieb, wie Tom es fertig brachte, den Geruch des Regens so
    deutlich von all den anderen zu unterscheiden. Für Joe ver-
    mengten sich sämtliche Gerüche zu einer einzigen großen stin-
    kenden Mixtur, die das spezifische Aroma Londons ausmachte.
    Nicht so für Tom. Für ihn hatte jedes Stadtviertel seinen unver-
    wechselbaren Geruch, so dass er auch mit geschlossenen Augen
    sagen konnte, wo er sich gerade befand, ja sogar wie die nächst-
    gelegene Straße hieß. Der Gestank lag in Schichten übereinan-
    der, jede so dick und klebrig wie Themseschlamm an den Schuh-
    sohlen. Man musste nur seine Nase benutzen, und schon konnte
    man sie sauber voneinander trennen.
    Die unterste Gestanksschicht bildeten die Ausdünstungen des
    Flusses. Sie waberten bis in die Straßen, die etliche Blocks vom
    Ufer entfernt waren, und genau genommen gab es nicht viele
    Orte in der Stadt, wo einen an warmen Tagen nicht ihr übler Ge-

    21
    ruch anwehte. In der Thames Street jedoch war er so hartnäckig
    wie der Boden unter den Füßen. An nebligen Tagen wie diesem
    war vom Fluss selbst nichts zu sehen, nicht einmal, wenn man
    sich über die Kaimauer beugte; dennoch bestand kein Zweifel,
    dass er vorhanden war. Denn sein Geruch war so dicht und so
    braun wie seine Fluten. Der Fluss kannte weder Scham noch An-
    stand. Er versteckte seinen Unrat nicht in den engen Gassen und
    Elendsquartieren der niedriger gelegenen Stadtteile, wie es die
    Vertreter der Obrigkeit vielleicht gern gehabt hätten. Vielmehr
    setzte er sein breites braunes Grinsen auf und flossohne sich im
    Mindesten zu genieren, als großer offener Strom aus

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