Der Verräter von Westminster
soll. Dann wären wir nicht mehr nur zu zweit.
Vielleicht ist die französische Polizei ja sogar dankbar für die Gelegenheit, ihm auf der Fährte zu bleiben.«
Pitt wandte sich ihm zu, konnte sein Gesicht aber im schwachen Licht kaum erkennen. »Falls er sich sofort nach Paris aufmacht, bleibt uns keine Zeit, ein Telegramm zu schicken«, gab er zu bedenken. » Wir müssen ihm beide folgen. Mir ist ohnehin rätselhaft, wieso er uns nicht längst bemerkt hat.« Dieser Gedanke hatte ihm bereits die ganze Nacht keine Ruhe gelassen. Gower und er waren nicht nur ziemlich groß, in Saint Malo würden sie als Engländer auch unter all den Franzosen hervorstechen – durch ihre Sprache wie auch durch den Schnitt ihrer Kleidung. Es schien ihm unmöglich, dass sie Wrexham im hellen Licht des Tages nicht sogleich auffallen würden.
»Ich denke, wir sollten ihn festnehmen«, sagte er. Jetzt bedauerte er, das nicht schon am Vortag getan zu haben. »Angesichts dessen, dass ihm der Strang sicher ist, findet er sich ja vielleicht bereit zu reden.«
»Gerade deshalb hat er dabei nichts zu gewinnen«, hielt ihm Gower entgegen.
Pitt machte ein finsteres Gesicht. »Bestimmt würde Narraway etwas einfallen, wenn die Aussage des Mannes eine Ausnahme rechtfertigt.«
»Es ist natürlich ohne weiteres möglich, dass Wrexham gar nicht zum Bahnhof will«, sagte Gower rasch und beugte sich ein wenig vor. » Wir haben die ganze Zeit angenommen, dass er nach Paris will. Und wenn nicht? Vielleicht will er in Saint Malo jemanden treffen. Warum sollte er sonst dahin fahren? Falls er nach Paris wollte, wäre es viel einfacher für ihn gewesen, die Fähre von Dover nach Calais zu nehmen und von da mit der Bahn weiterzufahren. Allem Anschein nach weiß er nach wie vor nicht, dass wir unverändert hinter ihm her sind. Wir sollten zumindest mal abwarten.«
Pitt ließ sich von diesem Vorschlag überzeugen. Möglicherweise war dieses Vorgehen ja am sinnvollsten. »Aber falls er doch zum Bahnhof geht, packen wir ihn uns – das heißt, wenn es uns möglich ist. Wenn er um Hilfe schreit und behauptet, dass man ihn entführen will, könnten wir das Gegenteil nicht beweisen.«
»Sie wollen doch nicht aufgeben?«, fragte Gower. In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Außerdem glaubte Pitt auch eine Spur Herablassung darin zu hören.
»Nein«, sagte er entschlossen. Dem Sicherheitsdienst ging es nicht in erster Linie um die Ahndung von Straftaten – er sah seine Hauptaufgabe darin, Hoch- und Landesverrat, umstürzlerische Bewegungen und Gewalttaten zu verhindern. Wests Leben hatten sie nicht retten können. »Nein«, wiederholte er, »ganz bestimmt nicht.«
Als sie die Fähre verließen, fiel es ihnen im Licht des allmählich heller werdenden Morgens nicht schwer, Wrexham in der Menschenmenge zu erkennen und ihm zu folgen. Er ging nicht zum Bahnhof, wie Pitt befürchtet hatte, sondern wandte sich der Altstadt mit ihrer großartigen Mauer zu. Wenn sie nicht damit hätten rechnen müssen, ihn aus den Augen zu verlieren, hätte sich Pitt gern mehr Zeit genommen, die mächtige Anlage genauer zu betrachten, während sie die Stadt durch ein Tor von so eindrucksvoller Durchfahrtsbreite betraten, dass mehrere Fuhrwerke darin nebeneinander Platz hatten. In den kreuz und quer verlaufenden Gassen der Altstadt fiel ihm auf, dass vor den Haustüren keine Stufen waren, sondern ihre Schwellen auf einer Ebene mit dem Straßenpflaster lagen. Hohe Mauern aus einförmig grauschwarzem Stein ragten vier oder fünf Stockwerke hoch auf. Das Ganze war von einer strengen Schönheit, die er gern näher erkundet hätte; es kam ihm vor, als hätten diese wenigen Schritte sie weit in die Vergangenheit
geführt. Einst waren gewiss Ritter auf ihren Pferden durch diese Straßen gesprengt und Seeräuber nach ihren Beutezügen dort herumstolziert.
Auf keinen Fall durften sie die Verbindung zu Wrexham abreißen lassen. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, schritt dieser rasch aus, als wisse er genau, wohin er wollte. Wenn sie ihn auch nur wenige Sekunden aus den Augen ließen, konnte er ihnen entkommen, indem er einfach in eins der Häuser an der Straße huschte.
Etwa eine Viertelstunde später, sie waren ziemlich weit nach Süden gegangen, blieb er unvermittelt stehen. Er klopfte an die Tür eines großen Hauses dicht hinter einem kleinen gepflasterten Platz mit einem mickrigen Baum in der Mitte und wurde schon bald eingelassen.
Während Pitt und Gower nahezu
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