Der Verräter von Westminster
möglichst viel in Erfahrung bringen.«
»Das hatte ich mir gedacht.«
Auch Gower sah Pitt nicht an und bewegte beim Sprechen die Lippen so gut wie gar nicht. So wie er sich entspannt an die von der Sonne gewärmten Steine der Mauer lehnte, hätte man glauben können, er werde jeden Augenblick einschlafen. »Da unten hat sich inzwischen was getan. Ein Mann ist rausgekommen, dunkle Haare, französisch gekleidet. Zwei sind reingegangen.« Seine Stimmhöhe stieg ein wenig an, während er fortfuhr: »Einen von denen hab ich erkannt: Pieter Linsky. Ich bin mir ganz sicher. Er hat nicht nur ein unverkennbares Gesicht, sondern hinkt auch, seit er in Lille bei dem Versuch, nach einem Anschlag zu fliehen, angeschossen wurde. Ich nehme an, dass der andere Jacob Meister war. Das ist allerdings eher eine Vermutung.«
Pitt spannte sich an. Die Namen waren ihm bekannt. Beide Männer waren an sozialistischen Machenschaften auf dem ganzen europäischen Kontinent beteiligt, reisten von Land zu Land und schürten Aufruhr, wo sie konnten. Sie organisierten Demonstrationen, Streiks und sogar Aufstände. Angeblich geschah all das im Namen der von ihnen geforderten Reformen,
in Wahrheit aber stand das Bestreben dahinter, das gesamte Gesellschaftssystem zu verändern, den herrschenden Schichten ihre Macht zu nehmen. Insbesondere Linsky war ein unverkennbarer Revolutionär. Da die ideologischen Standpunkte der beiden deutlich voneinander abwichen, war es bemerkenswert, dass sie gemeinsame Sache zu machen schienen. Die Anhänger der sozialistischen Bewegung traten mit einer Leidenschaft und einem Idealismus auf, als seien sie die Jünger einer neuen Religion, deren Begründer nahezu wie Götter verehrt wurden. Jeder, der eine abweichende Meinung vertrat, wurde als Ketzer gebrandmarkt. Innerhalb der Bewegung gab es Unter- und Splittergruppen, die ihre Rivalitäten mit geradezu missionarischem Eifer austrugen. Sie benutzten sogar religiöse Begriffe, wenn sie über ihre Ziele sprachen.
Pitt stieß die Luft aus. Es klang wie ein Seufzer. »Ich nehme an, dass Sie sich in Bezug auf Meister trotz Ihrer Einschränkung ziemlich sicher sind?«
Ohne sich zu rühren, sagte Gower, der nach wie vor in die Sonne lächelte, wobei sich seine Brust kaum hob und senkte, während er atmete: »Ja, Sir, durchaus. Bestimmt besteht da ein Zusammenhang mit dem, was West uns sagen wollte. Dass die beiden trotz ihrer gegensätzlichen Positionen gemeinsame Sache machen, kann nur bedeuten, dass etwas ganz Großes im Gange ist.«
Pitt widersprach nicht. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass sie es hier mit den ersten Vorboten des Sturms zu tun hatten, den Narraway hatte heraufkommen sehen und der über Europa losbrechen würde, wenn sie es nicht verhinderten.
» Wir behalten die Leute im Auge«, sagte Pitt ruhig und bemühte sich, ebenfalls den Eindruck zu erwecken, als genieße er angenehm entspannt die Sonne. »Achten Sie darauf, mit wem sie sonst noch Kontakt aufnehmen.«
Gower lächelte. » Wir werden vorsichtig sein müssen. Was führen die Ihrer Ansicht nach im Schilde?«
Schweigend überlegte Pitt, während er unter halb gesenkten Lidern die farbig gestrichene Holztür von Nummer sieben beobachtete. Allerlei Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Angesichts dessen, dass die Leute so viele Männer zu brauchen schienen, hielt er einen Mordanschlag auf eine einzelne Person für weniger wahrscheinlich als einen Generalstreik – wenn die Leute nicht gar eine Reihe von Bombenattentaten planten. Bisher waren Mordanschläge stets durch einen einzelnen Täter erfolgt, der bereit war, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber … wer war besonders verwundbar? Wessen Tod würde dauerhafte Veränderungen bewirken?
»Ob Streiks geplant sind?«, unterbrach Gower Pitts Erwägungen. »Wenn die in ganz Europa ausgerufen würden, ließe sich damit die Industrie in die Knie zwingen.«
»Möglich«, stimmte Pitt zu. Seine Gedanken wandten sich den großen Werft- und Industriestädten im Norden Englands zu. Auch die Kohlengruben nahe Durham, in Yorkshire oder Wales kamen in Frage. Dort hatte es früher schon Streiks gegeben, die aber stets beendet worden waren, nachdem die Arbeiter und ihre Familien längere Zeit unter dem fehlenden Einkommen gelitten hatten.
»Demonstrationen?«, fuhr Gower fort. » Wenn Tausende an den richtigen Stellen gleichzeitig auf die Straße gehen, könnten sie den Verkehr zum Erliegen bringen oder auch ein bedeutendes
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