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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ist.«
    Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. Welches Ausmaß an Schuld und Kummer! War Narraway tatsächlich so grausam und skrupellos, wie es nach Croxdales Worten den Anschein hatte? Er rief sich in Erinnerung, wie Narraways Gesicht unter den verschiedensten Umständen ausgesehen hatte, in Zeiten des Erfolgs wie solchen des Fehlschlags; wenn er erschöpft war, besorgt, enttäuscht, am Ende Dutzender gewonnener oder verlorener Kämpfe. Das Vertrauensverhältnis, das sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen herausgebildet hatte, beruhte auf Instinkt, entzog sich jeglicher auf den Verstand gegründeten Analyse. Es fiel Pitt schwer, seine Empfindungen zu verbergen, und er bemühte sich, verwirrt dreinzublicken.
    »Wenn all das zwanzig Jahre zurückliegt, was hat sich dann jetzt geändert?«, erkundigte er sich.

    Croxdale zeigte sich von dieser Frage nur einen kurzen Augenblick lang verblüfft. »Das wissen wir nicht«, gab er zurück. »Vermutlich hat es mit O’Neils Situation zu tun.«
    »Ich dachte, den hat man gehängt?«
    »Das war Sean O’Neil, der Ehemann jener Kate. Aber sein Bruder Cormac lebt noch. Die beiden haben einander selbst für irische Verhältnisse ungewöhnlich nahegestanden«, erläuterte Croxdale.
    »Und warum hat dieser Cormac dann mit seiner Rache zwanzig Jahre lang gewartet? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat Narraway das Geld doch in irgendeinem Zusammenhang mit diesem O’Neil an sich genommen.«
    Croxdale zögerte und sah Pitt wachsam an. »Offen gestanden ahne ich das nicht. Augenscheinlich müssen wir noch eine Menge mehr in Erfahrung bringen, als wir zur Zeit wissen. Meine Vermutung, dass die Sache mit O’Neil zu tun haben könnte, hängt damit zusammen, dass Narraway nahezu unmittelbar nach seiner Enttarnung nach Irland aufgebrochen ist. Entweder hat er viele Feinde dort und schwebt in höchster Gefahr, oder er hat neue Verbündete gefunden, indem er Mulhare die Flucht verunmöglicht hat, und beabsichtigt nun, mit ihnen in Irland gegen uns zu arbeiten.«
    Pitt fühlte sich, als habe ihn jemand mit einem Sandsack niedergeschlagen. In dem Versuch, die Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, sah er benommen zu Croxdale hin, dessen Gesicht vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Der Raum schien sich um ihn zu drehen.
    »Tut mir außerordentlich leid«, sagte Croxdale. »Ich kann mir denken, wie sehr Sie das mitnimmt. Natürlich konnten Sie von diesem Wesenszug Narraways nichts wissen. Ich muss zugeben, dass auch ich nichts davon geahnt habe. Es kommt mir jetzt geradezu sträflich vor, dass ich einen solchen Mann in unserer empfindlichsten Abteilung an so exponierter Stelle
beschäftigt habe. Dank seiner unbestreitbar beachtlichen Fähigkeiten ist es ihm gelungen, diesen finsteren und offenkundig äußerst gewalttätigen Teil seines Wesens vollständig verborgen zu halten.«
    Pitt war nicht bereit zu glauben, was er da gehört hatte, zum Teil allein schon deshalb, weil ihm die Vorstellung unerträglich war. Immerhin befand sich Charlotte mit Narraway in Irland. Was war mit ihr? Wie konnte er Croxdale danach fragen, ohne preiszugeben, dass er im Bilde war? Er dachte nicht im Traum daran, Lady Vespasia mit in die Sache hineinzuziehen. Schließlich war sie für ihn ein Posten auf seiner Habenseite – möglicherweise der einzige.
    Croxdale sprach mit gedämpfter Stimme weiter, als befürchte er, ein Dienstbote könne ihn belauschen.
    »Pitt, die Sache ist äußerst schwerwiegend. Ich bin froh, dass Sie das sofort begriffen haben. Um mit dieser katastrophalen Situation fertigzuwerden, müssen wir unsere Kräfte neu gruppieren. Sieht ganz so aus, als ob um uns herum lauter Verschwörungen lauerten. Meiner Überzeugung nach gehört das, was Sie und Gower ermittelt haben, zu einem umfassenden und möglicherweise äußerst gefährlichen Plan. Wir alle wissen, dass die Welle des Sozialismus in Europa schon seit längerer Zeit immer höher schwappt. Aus Gründen, die ich nicht zu erläutern brauche, konnte ich Narraway unmöglich länger im Amt lassen. Auf diesem Posten brauche ich den besten Mann, den ich finden kann. Er muss in jeder Hinsicht vertrauenswürdig sein, und in seiner Vergangenheit darf es keinen dunklen Punkt geben, nichts, was unsere gegenwärtigen Bemühungen um die Sicherheit unseres Landes gefährden könnte.«
    Pitt zwinkerte. »Das versteht sich von selbst.« Wollte Croxdale mit diesen Worten durchblicken lassen, dass er Austwick für den Judas hielt? Dieser Frage

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