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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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inzwischen herumgesprochen, dass sie angeblich Narraways Halbschwester war.
    Aber wohin könnte sie sich wenden? Wie lange würde es dauern, bis man sie in einer Stadt von der Größe Dublins aufspürte? Sie war dort fremd, eine auf sich allein gestellte Engländerin. Außer den Menschen, denen sie durch Narraways Vermittlung vorgestellt worden war, kannte sie niemanden. Sicher würde es nur Stunden dauern, bis man sie entdeckt hätte. Dann würde es lächerlich wirken, dass sie das Quartier gewechselt hatte, und den Eindruck erwecken, als habe sie einen Grund, sich zu verstecken.
    Sie schritt rasch aus und versuchte so zu tun, als kenne sie ihr Ziel und wisse, was sie dort wollte. Ersteres stimmte sogar. Sie sah eine Droschke, die einen Fahrgast absetzte. Wenn sie schnell genug war, konnte sie sich von ihr in die Molesworth Street fahren lassen. Sie erreichte sie gerade in dem Augenblick, als der Kutscher sein Pferd antrieb, um zu wenden.
    »Kutscher!«, rief sie. »Würden Sie mich in die Molesworth Street bringen?«

    »Selbstverständlich gern«, gab er zur Antwort, beendete das Wendemanöver und ließ sie einsteigen. Erleichtert und dankbar nahm sie Platz. Sie wandte sich nicht um, während die Droschke davonfuhr. Sie konnte sich die Szene deutlich genug vorstellen. Narraway, der sich, gefesselt wie ein gefährlicher Verbrecher, in jenem Haus befand, musste sich entsetzlich einsam fühlen. Ob er Angst hatte? Sicherlich würde er das nie zeigen. Vermutlich verheimlichte er diese Angst, wenn er sie empfand, wie alle anderen Empfindungen, die ihn verletzlich machten und die er nach außen hinter seinem spöttischen Humor versteckte.
    Sie mahnte sich, weniger an sich selbst zu denken. Pitt war irgendwo in Frankreich, fest überzeugt, dass Narraway nach wie vor Lisson Grove leitete, während er in Wahrheit niemanden hatte, auf den er sich stützen konnte. Nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen würde er annehmen, dass man seinen Vorgesetzten in Irland unter Mordverdacht festhielt und das Hauptquartier des Sicherheitsdienstes sich – zumindest teilweise – in den Händen von Hochverrätern befand. Angesichts dieser Situation waren ihre eigenen Gefühle unerheblich. Wichtig war jetzt einzig und allein die Rettung Narraways, und dazu musste sie sich bemühen, die Wahrheit nicht nur zu erkunden, sondern auch zu beweisen.
    Als Täter kam ausschließlich jemand in Frage, bei dessen Betreten des Hauses der Hund nicht anschlagen würde. Es musste also jemand sein, den er kannte, jemand, der dort ein und aus ging. Damit fiel der Verdacht automatisch auf Talulla. Ihr Onkel Cormac lebte allein, das hatte er am Vorabend zu Charlotte gesagt, als sie ihn gefragt hatte. Vermutlich kam von Zeit zu Zeit eine Zugehfrau zum Putzen und Waschen, doch selbst wenn man annahm, dass sie gerade jetzt dort gewesen war – welchen Grund hätte sie haben sollen, ihren Arbeitgeber zu töten? Woher hätte sie überhaupt eine Schusswaffe?

    Warum also sollte ihn ausgerechnet seine Nichte Talulla getötet haben? Aus Pitts früheren Fällen war Charlotte bekannt, dass Morde ausgesprochen häufig von Angehörigen oder anderen dem Opfer nahestehenden Menschen begangen wurden. Natürlich bestand die Möglichkeit eines Raubüberfalls, doch hätte der Hund sofort angeschlagen, wenn ein Einbrecher ins Haus gekommen wäre.
    Aus welchem Grund mochte Talulla ihn getötet haben – und warum gerade jetzt? Womöglich, um Narraway die Schuld daran zu geben? Doch woher hätte sie wissen können, dass er dort sein würde?
    Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: Der Brief, der Narraway dorthin gelockt hatte, stammte von Talulla und nicht von Cormac. Es dürfte ihr nicht schwergefallen sein, die Handschrift ihres Onkels nachzuahmen. Zwar mochte sich Narraway aus der Zeit vor zwanzig Jahren daran erinnern, wie diese aussah, aber bestimmt nicht in solchen Einzelheiten, dass er eine gute Fälschung als solche erkannt hätte.
    Aber auch damit blieb nach wie vor die Frage, warum sie gerade diesen Zeitpunkt gewählt hatte. Cormac und sie waren die beiden einzigen Überlebenden der zwanzig Jahre zurückliegenden Tragödie. Er war kinderlos, und Talullas Eltern lebten nicht mehr. Zweifellos waren beide davon überzeugt, dass Narraway die Schuld an deren Tod trug. Welches Motiv aber hätte Talulla gehabt, Cormac zu töten? Gab es etwas, wovon sie nicht zulassen durfte, dass Narraway es erfuhr, und hatte er womöglich unmittelbar davorgestanden, das

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