Der Verräter von Westminster
verschaffen. Nur an Ort und Stelle konnte er in Erfahrung bringen, was wirklich hinter dem Ablenkungsmanöver steckte, das ihn nach Frankreich gelockt und so lange dort festgehalten hatte. Er war nach wie vor aufgebracht und zugleich peinlich berührt, weil er sich auf so plumpe Weise hatte hinters Licht führen lassen.
Auch um für Narraway – und damit automatisch für Charlotte – etwas tun zu können, war er dringend auf Informationen angewiesen, die er nirgendwo anders als in Lisson Grove bekommen konnte.
Hinzu kam, dass er unbedingt die Sache mit Gower aufklären musste. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sehr ihn der Sturz aus dem Zug entstellt hatte, doch würde die Polizei sicherlich alles tun, um ihn zu identifizieren und damit zweifellos früher oder später Erfolg haben. Es war nicht auszuschließen, dass man in Lisson Grove bereits Bescheid wusste, wenn er dort eintraf.
Was sollte er den Kollegen sagen? Einen wie großen Teil der Wahrheit konnte er enthüllen? Er wusste nicht, wer seine Feinde waren, sie hingegen kannten ihn nur allzu gut. Instinktiv neigte er dazu, sich so unwissend wie möglich zu stellen. Je weniger man in ihm einen ernst zu nehmenden Gegner sah, desto weniger musste er damit rechnen, dass man ihn aus dem Weg zu räumen versuchte. Diese vorgetäuschte Unwissenheit konnte ihm zumindest für eine Weile als Tarnung dienen.
Was den Angriff im Zug auf ihn anging, dürfte es das Beste sein, die Sache nicht zu verschweigen, da die Polizei den Fall bereits kannte. Nur war es sicher besser, zu erklären, er habe keine Vorstellung, wer der Angreifer war – das würde durchaus glaubwürdig klingen.
In Bezug auf Gower würde er sagen, er habe ihn zuletzt in Saint Malo gesehen, als sie gemeinsam beschlossen hatten, Pitt solle nach London zurückkehren, um sich zu erkundigen, was man in Lisson Grove über eine mögliche Verschwörung wusste, während Gower in Frankreich die Stellung halten und Frobisher, Wrexham und andere mögliche Verdächtige nicht aus den Augen lassen sollte. Selbstverständlich musste er so tun, als wisse er nicht das Geringste über die Sache mit Narraway, und auf jeden Fall würde er sich über die Ungeheuerlichkeit von dessen Handlungsweise entsetzt zeigen müssen, wenn man ihm die Zusammenhänge mitteilte.
Er traf kurz vor vier Uhr im Hauptquartier ein, ging an der Wache vorbei ins Haus und bat darum, mit Narraway sprechen zu können.
Man forderte ihn auf zu warten. Damit hatte er gerechnet und war umso erstaunter, dass Charles Austwick bereits nach vergleichsweise kurzer Zeit nach unten kam und ihn in sein Büro führte. Pitt sah auf den ersten Blick, dass dort nichts mehr auf Narraway hinwies: seine Bilder waren ebenso von den Wänden verschwunden wie das Foto seiner Mutter von dem Bücherregal. Auch Narraways Bücher, überwiegend Gedichtbände und Lebenserinnerungen bedeutender Persönlichkeiten, wie auch die gravierte Messingschale aus dessen Militärdienstzeit in Afrika hatte man entfernt.
Er sah Austwick betont verwirrt an.
»Nehmen Sie Platz, Pitt.« Der neue Leiter des Sicherheitsdienstes wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Ich verstehe gut, dass Sie sich fragen, was zum Teufel hier passiert ist. Zu meinem großen Bedauern muss ich Ihnen eine Eröffnung machen, die Sie vermutlich bestürzen wird.«
Pitt zwang sich, beunruhigt dreinzublicken, als könne er sich keinen Reim auf die Situation machen. »Ist Mr Narraway etwas zugestoßen? Ist er verletzt? Oder krank?«
»In gewisser Weise ist es schlimmer als das«, teilte ihm Austwick mit düsterer Miene mit. »Es besteht Grund zu der Annahme, dass er eine beträchtliche Geldsumme unrechtmäßig an sich gebracht hat. Als man ihn mit diesem Verdacht konfrontiert hat, ist er verschwunden. Niemand weiß, wo er sich aufhält. Selbstverständlich hat man ihn sofort seines Amtes enthoben, und ich habe – jedenfalls einstweilen – seine Aufgabe übernommen. Bis ein offizieller Nachfolger ernannt wird, unterstehen Sie also mir. Mir ist klar, dass das für Sie ein schwerer Schlag sein muss. Offen gestanden war es das für uns alle. Wohl niemand hat sich vorstellen können, dass ausgerechnet Narraway dieser Art von Versuchung erliegen würde.«
Pitts Gedanken jagten sich. Wie sollte er auf diese Eröffnung reagieren? Er hatte geglaubt, sich alles zurechtgelegt zu haben, doch als er jetzt in Narraways einstigem Büro saß, an dem man eigentlich nur wenig verändert hatte, das aber gleichwohl
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