Der Verräter von Westminster
war Pitt bisher bewusst ausgewichen
und hatte abgewartet, bis Croxdale darauf zu sprechen kam. Er war erleichtert. Der Mann war klug und vertrauenswürdiger, als er angenommen hatte. Doch wie konnte er dann von Narraway denken, was er Pitt vorgetragen hatte?
Im nächsten Augenblick fragte sich Pitt, ob er sich auf seine eigene Urteilskraft verlassen konnte. Immerhin hatte er auch Gower vertraut.
Croxdale sah ihn nach wie vor unverwandt an.
Pitt wusste nicht, was er hätte sagen können.
»Wir brauchen einen Mann, der weiß, was Narraway getan hat, und die Zügel da wieder aufnehmen kann, wo dieser sie hat fallen lassen«, fuhr Croxdale fort. »Der einzige Mann, auf den all das zutrifft, sind Sie, Pitt. Mir ist klar, dass ich damit eine Menge von Ihnen verlange, aber es gibt keinen anderen. Ich bin überzeugt, dass Narraways Urteil über Ihre Fähigkeiten und Ihre Integrität voll und ganz zutrifft.«
»Aber … Austwick … «, stotterte Pitt. »Er …«
»Als Lückenbüßer ganz in Ordnung«, sagte Croxdale kühl, »aber in Zeiten wie diesen nicht der richtige Mann für die Aufgabe. Ehrlich gesagt besitzt er weder die nötigen Führungsqualitäten, noch ist er imstande, Entscheidungen dieser Größenordnung zu treffen. Als einstweiliger Stellvertreter war er durchaus brauchbar.«
Pitt wurde schwindelig. Weder hatte er bei seiner bisherigen Tätigkeit im Sicherheitsdienst Entscheidungen treffen müssen, noch verfügte er über Erfahrungen mit den politischen Dimensionen der Stellung als dessen Leiter. Ganz davon abgesehen war er auch nicht so sehr von sich selbst überzeugt, dass er seine eigene Urteilskraft höher einschätzte als die anderer. Ihm war klar, dass er auf keinen Fall imstande wäre, schwierige Situationen so rasch, unauffällig und machtvoll zu lösen, wie Narraway das getan hatte. Erst in diesem Augenblick, während er Croxdale benommen ansah, ging ihm auf, eine
wie umfassende Verantwortung mit Narraways Aufgabe verbunden war.
»Auch ich besitze nicht die erforderlichen Fähigkeiten«, sagte er schließlich. »Und ich bin auch noch nicht lange genug dabei, als dass mir die anderen Mitarbeiter rückhaltloses Vertrauen entgegenbringen würden. Ich werde Austwick bereitwillig nach Kräften unterstützen, fühle mich aber der Führungsposition nicht gewachsen.«
Croxdale lächelte. »Mit Ihrer Bescheidenheit habe ich mehr oder weniger gerechnet. Es ist eine positive Eigenschaft, denn aus Überheblichkeit entstehen Fehler. Ich bin überzeugt, dass Sie bei anderen Rat suchen und ihn auch befolgen werden – jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle. Soweit mir bekannt ist, hat Sie bisher weder Ihre Urteilskraft im Stich gelassen noch Ihnen der Mut gefehlt, Ihren Überzeugungen entsprechend zu handeln. Ihre früheren Leistungen sind mir bekannt, Pitt. Glauben Sie wirklich, dass die unbemerkt geblieben sind?« Er fragte das mit einer Stimme, in der ein Anflug von Belustigung lag.
»Schon möglich«, räumte Pitt ein. »Sicher wissen Sie eine ganze Menge über Leute, die Sie in Dienst nehmen. Aber …«
»In Ihrem Fall war das anders«, widersprach ihm Croxdale, »denn Narraway hat Sie eingestellt. Aber ich habe Sie von Anfang an ganz bewusst im Auge behalten. Ihr Land braucht Sie, Pitt. Narraway hat unser Vertrauen auf die schändlichste Weise missbraucht. Sie waren seine rechte Hand, und so ist es für Sie nicht nur eine Ehre, die Ihnen angetragene Aufgabe zu übernehmen, sondern auch Ihre Pflicht.« Er hielt ihm die Hand hin.
Pitt wusste nicht, was er sagen sollte. Er empfand weder Freude noch das Gefühl, einer hohen Ehre teilhaftig zu werden, wohl aber überfielen ihn Trauer um Narraway und Angst um Charlotte. Überdies bedrückte ihn das Bewusstsein, dass
man ihm hier ein Gewicht aufbürdete, ihm eine Macht im Guten oder Schlechten übertrug, die er nicht wollte. Es entsprach nicht seinem Wesen, in Situationen, die weder schwarz noch weiß, sondern grau waren und in denen Menschenleben auf dem Spiel standen, klare Entscheidungen zu treffen.
»Wir zählen auf Sie, Pitt«, sagte Croxdale. »Lassen Sie Ihr Land nicht im Stich, Mann!«
»Nein, Sir«, sagte Pitt unglücklich. »Ich werde tun, was ich kann, Sir …«
»Gut.« Croxdale lächelte. »Ich habe ja gleich gewusst, dass ich mich auf Sie verlassen kann. In dieser Hinsicht hatte Narraway Recht. Ich werde die entsprechenden Stellen von der Veränderung in Kenntnis setzen, unter anderem natürlich auch den Premierminister. Danke, Pitt, Sie
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