Der Verräter von Westminster
vollständig anders wirkte, überfiel ihn erneut Unsicherheit. Ob Austwick der Judas war, der Narraway ausgebootet hatte? In dem Fall musste der Mann weit klüger sein, als Pitt angenommen hatte. Ohne zu ahnen, dass es im Sicherheitsdienst einen Verräter gab, hatte er Gower rückhaltlos vertraut, mit dem bekannten Ergebnis. Inwieweit konnte er sich auf sein Urteilsvermögen verlassen?
»Ich sehe, dass Sie sprachlos sind«, sagte Austwick verständnisvoll. »Wir hatten hier inzwischen Gelegenheit, uns mit der Vorstellung und der veränderten Situation vertraut zu machen. Die Unterschlagung ist unmittelbar nach Ihrem Weggang aufgeflogen. Wo ist übrigens Gower?«
Pitt holte tief Luft und stürzte sich in die Geschichte, die er sich zurechtgelegt hatte. »In Frankreich, in Saint Malo.« Während er das sagte, achtete er möglichst unauffällig auf Austwicks Gesichtsausdruck und versuchte an dessen Augen und
Reaktionen zu erkennen, ob er wusste, dass es sich dabei um alles andere als die reine Wahrheit handelte.
Austwick sprach betont langsam, als wäge er jedes seiner Worte ab, und schien Pitt dabei ebenso aufmerksam zu mustern wie dieser ihn. Ob ihm womöglich Somerset Carlisles erstklassig geschnittenes Hemd oder dessen Krawatte mit den Bordeauxtönen aufgefallen war?
Pitt wiederholte genau, was – seinem damaligen Kenntnisstand nach – zu dem Zeitpunkt geschehen war, als er Narraway von der Notwendigkeit unterrichtet hatte, in Frankreich zu bleiben. Er hatte zu keinem Zeitpunkt schriftlich Bericht erstattet, weil er weder der Briefpost noch einem Telegramm Einzelheiten anvertrauen wollte. Eine solche Mitteilung wäre zu vielen Menschen zugänglich gewesen, und das hätte selbst dann gefährlich sein können, wenn er die Begriffe vorsichtig umschrieben hätte. Alles, was er inzwischen über Gower wusste, verschwieg er.
Austwick schien konzentriert zuzuhören. Seinem Gesichtsausdruck ließ sich nicht entnehmen, ob er die wirklichen Hintergründe kannte.
»Aha«, sagte er schließlich und trommelte auf der Tischplatte herum. »Sie haben also Gower in Frankreich gelassen, weil Sie hofften, dass es da noch etwas Lohnendes zu beobachten gibt?«
»Ja, Sir …« Es kostete ihn Mühe, das Wort »Sir« über die Lippen zu bringen. In ihm wuchs die Wut darüber, dass jener Mann dort an Narraways Schreibtisch auf dem Stuhl seines einstigen Vorgesetzten saß. War auch Austwick in dieser Partie nur eine Spielfigur – oder war er derjenige, der die Figuren führte?
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, fragte er Pitt. »Sie sagen, dass Ihnen nichts mehr aufgefallen ist, seit Sie die beiden Männer gesehen haben … wer war das noch mal? Meister und Linsky?«
»Ja. In Frobishers Haus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, aber außer den beiden haben wir keinen der Gäste dort erkannt. Möglicherweise war es ein Zufall, dass Meister und Linsky da aufgetaucht sind, aber andererseits muss man bedenken, dass West brutal und offen ermordet worden ist und der Täter Zuflucht in dem Haus gesucht hat. Dafür muss es einen Grund geben.«
Austwick schien eine Weile darüber nachzudenken. Schließlich hob er den Kopf und sagte mit geschürzten Lippen: »Sie haben Recht. Bestimmt ist da etwas im Gange, und selbst wenn die Sache von Frankreich ausgeht, kann sie ohne weiteres mit der Planung von Gewalttaten hier im Lande zusammenhängen. Wir müssen auch an unsere Verbündeten denken und daran, welchen Einfluss es auf unsere Beziehungen zu ihnen hat, wenn wir es nicht fertigbringen, sie rechtzeitig auf solche Umtriebe hinzuweisen. Ich jedenfalls würde mich hintergangen fühlen, wenn unsere Verbündeten von einer Bedrohung unseres Landes Wind bekämen, ohne uns etwas darüber mitzuteilen.«
»Ja, Sir«, stimmte Pitt zu, obwohl er die Worte nur mühsam herausbrachte. Er stand auf. »Sie werden mich bitte entschuldigen, ich habe noch Verschiedenes zu erledigen. «
»Natürlich.« Austwick wirkte gelassen, geradezu beruhigt. Pitt zitterte vor Wut, als er den Raum verließ, und es kostete ihn große Mühe, die Tür leise zu schließen.
Am Abend suchte er den für den Sicherheitsdienst zuständigen Minister Sir Gerald Croxdale auf. Dieser hatte ihn aufgefordert, zu ihm nach Hause zu kommen, da es, wie er gesagt hatte, angesichts der privaten Art und der Dringlichkeit von Pitts Anliegen das Beste sein dürfte, wenn niemand von ihrem Zusammentreffen erfuhr.
Croxdale bewohnte ein schönes altes Haus in Hampstead am Rande
Weitere Kostenlose Bücher