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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Dabei kam ihr der Gedanke, wie entsetzlich sich dieser stets wie aus dem Ei gepellt auftretende Mann in einer Gefängniszelle fühlen musste, in der man sich wohl so gut wie nicht waschen konnte und keinerlei Privatsphäre hatte.
    Seine wenigen Papiere fand sie in der obersten Schublade, zum Glück nicht in einer verschlossenen Dokumentenmappe. Allerdings konnte das nur bedeuten, dass sie einem Außenstehenden nichts sagen würden.
    Nachdem sie seinen Koffer in ihrem Zimmer in eine Ecke gestellt hatte, ging sie die wenigen Notizen durch, die er sich gemacht hatte. Sie waren ein sonderbares Spiegelbild seines Wesens, zeigten eine Seite von ihm, von der sie nichts geahnt hatte. Meist waren es kleine, geradezu winzige Zeichnungen, doch ausgesprochen gut ausgeführt, auch wenn es nur Strichmännchen waren. Sie zeigten charakteristische Merkmale auf so lebendige Weise, dass sie sogleich wusste, wen sie darstellen sollten.
    Neben einem kleinen Mann in einer gestreiften Hose, in dessen Hutband ein Geldschein steckte, stand eine Frau mit wirrem Haar und hinter ihm eine weitere, noch schlankere Frau, bei deren Armen und Beinen die Knochen durch die Haut zu stoßen schienen.
    Obwohl Arme und Beine nur angedeutet waren, wusste Charlotte sogleich, dass es sich dabei um John und Bridget Tyrone handeln musste. Die andere Frau wirkte so ungebärdig,
dass ihr sogleich Talulla in den Sinn kam. Neben sie hatte Narraway ein Fragezeichen gemacht.
    Außer einem Mann, von dem man lediglich die obere Hälfte sehen konnte, als stecke er bis zu seinen Armen in etwas, war das alles. Sie sah eine ganze Weile hin, bis ihr mit Entsetzen die Erleuchtung kam. Es war Mulhare, der ertränkt worden war, weil ihn das Geld nicht erreicht hatte.
    Die kleine Zeichnung wies auf eine Verbindung zwischen Talulla und John Tyrone hin. Charlotte wusste, dass er Bankier war, und die Art der Darstellung ließ darauf schließen, dass das sein entscheidendes Merkmal war. In dem Fall dürfte er in der Angelegenheit eine entscheidende Rolle gespielt haben. Lief der Kontakt nach London über ihn? Hatte er aufgrund seines Berufs die Möglichkeit gehabt, Geld von Dublin nach London zu verschieben und mit Hilfe eines Mitwissers oder Mittäters in Lisson Grove dafür zu sorgen, dass es erneut auf Narraways Konto landete?
    In dem Fall stellte sich die Frage, wer sein Kontaktmann in Lisson Grove war und aus welchem Grund dieser auf so infame Weise gehandelt hatte. Das würde ihr niemand außer Tyrone sagen können.
    Ob es sinnlos oder gar gefährlich sein würde, ihn aufzusuchen? Sie wusste nicht, an wen sie sich sonst hätte wenden können, da ihr nicht bekannt war, wer außer ihm mit der Sache zu tun hatte. Auf keinen Fall konnte sie McDaid noch einmal aufsuchen, denn in ihr festigte sich immer mehr die Gewissheit, dass seine Äußerungen über Unschuldige, die »zufällig nebenbei« Opfer wurden, einerseits Ausdruck seiner Weltanschauung waren, ihr aber auch zur Warnung dienen sollten. Er kam ihr vor wie eine Urgewalt, die sich ihren Weg ohne Rücksicht auf Hindernisse bahnt.
    War Talulla die treibende Kraft hinter Cormacs Tod oder nur das Werkzeug in den Händen eines anderen gewesen? Dafür
käme sicher jemand wie John Tyrone infrage, der so harmlos wirkte, aber in Dublin und London eine gewisse Macht verkörperte, die ausreichte, um einen Verräter in Lisson Grove zu lenken, wenn nicht gar jemanden dazu zu machen.
    Sie sah zwei Möglichkeiten: Entweder ging sie zu Tyrone, oder sie gab auf, kehrte nach London zurück und überließ es Narraway, sich der Anklage zu stellen, immer vorausgesetzt, dass er bei der Gerichtsverhandlung noch lebte. Würde man ihm einen Prozess gemäß den gesetzlichen Vorschriften machen? Das war nicht unbedingt sicher. Die alten Wunden waren noch nicht verheilt, und der englische Sicherheitsdienst würde sich nicht auf seine Seite schlagen. Bei Licht besehen blieb ihr keine andere Möglichkeit, als Tyrone aufzusuchen.
     
    Das Mädchen, das auf ihr Klopfen geöffnet hatte, ließ sie mit unübersehbarem Zögern eintreten.
    »Ich muss dringend mit Mr Tyrone sprechen«, sagte Charlotte, kaum, dass sie in dem hohen Vestibül stand. »Es hat mit dem Mord an Mr Mulhare und an dem armen Mr O’Neil zu tun.«
    »Ich sage es ihm«, gab das Mädchen zurück. »Wen darf ich melden?«
    »Mrs Charlotte Pitt.« Sie zögerte nur einen kleinen Augenblick. »Victor Narraways Schwester.«
    »Sehr wohl, Ma’am.« Sie ging davon und klopfte an eine Tür auf

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