Der Verräter von Westminster
Kälte in ihr hochkroch. »Das weiß ich nicht. Ich versuche es mir zu überlegen.«
»Seien Sie auf der Hut, Mrs Pitt«, mahnte er sie freundlich. »Ich fände es ausgesprochen bedauerlich, wenn auch Sie gleichsam nebenbei zum Opfer würden.«
Sie brachte es fertig zu lächeln, so, als könne sie sich nicht vorstellen, dass seine Worte ebenso sehr eine Drohung wie
eine Mahnung enthielten. Sein Gesicht kam ihr vor wie eine geisterhafte Maske, die sie zu durchschauen vermochte. »Danke. Es ist sehr zuvorkommend von Ihnen, sich um mich Sorgen zu machen, und ich verspreche Ihnen, dass ich mich vorsehen werde.« Sie stand auf und bemühte sich, fest auf den Beinen zu stehen. »Jetzt sollte ich wohl besser gehen. Es war ein … ein entsetzlicher Tag.«
Als sie in der Molesworth Street eintraf, trat Mrs Hogan sogleich auf sie zu. Sie sah verlegen drein und verdrehte ihre Schürze in den Händen.
Charlotte sprach das Thema an, bevor Mrs Hogan nach Worten suchen konnte.
»Offensichtlich haben Sie bereits von der entsetzlichen Sache mit Mr O’Neil gehört«, sagte sie. »Ich hoffe sehr, dass Mr Narraway imstande ist, der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein. Er hat mit solchen Tragödien eine gewisse Erfahrung. Selbstverständlich hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie es lieber sähen, dass ich unterdessen bei Ihnen ausziehe. Natürlich müsste ich eine Übergangslösung finden, bis ich nach Hause zurückkehren kann. Ich nehme an, dass das einen oder zwei Tage dauern wird. Also werde ich die Sachen meines Bruders zusammenpacken und zunächst bei mir unterbringen, damit Sie sein Zimmer weitervermieten können. Soweit ich weiß, sind die nächsten Nächte bereits bezahlt?«
Wenn der Himmel wollte, würde sich der Fortgang der Angelegenheit in zwei Tagen entschieden haben, und zumindest ein weiterer Mensch in Dublin würde mit Sicherheit wissen, dass Narraway die Tat nicht begangen hatte.
Mrs Hogan war peinlich berührt. Mit diesen Worten hatte ihr Charlotte die Sache aus den Händen genommen, und jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ganz wie von Charlotte erhofft, stimmte sie dem vorgeschlagenen Kompromiss zu. »Danke, Ma’am. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
»Wenn Sie mir den Schlüssel für das Zimmer meines Bruders geben könnten, werde ich das gleich erledigen.« Mit diesen Worten hielt Charlotte ihr die Hand hin.
Zögernd händigte ihr Mrs Hogan den Schlüssel aus.
Charlotte schloss Narraways Zimmer auf und ging hinein. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie würde seine Habe einpacken und darum bitten, dass man ihr den großen Koffer trug, wenn sie es nicht schaffte, ihn selbst hinüber in ihr Zimmer zu schleifen.
Wichtiger als seine Hemden, Socken und Wäsche waren Papiere. Hatte er womöglich irgendetwas schriftlich festgehalten? Falls ja – war es so abgefasst, dass sie es verstehen konnte? Könnte sie doch wenigstens Thomas um Rat fragen! Er hatte ihr noch nie so sehr gefehlt wie jetzt. Andererseits war ihr bewusst: wenn er hier wäre, befände sie sich jetzt in ihrem Haus in London, statt verzweifelt zu versuchen, eine Aufgabe auszuführen, für die sie sich so wenig eignete. Hier ging es nicht um ein alltägliches Verbrechen, für das sich die Beweise in aller Ruhe Stück für Stück zusammentragen ließen. Sie befand sich in einem fremden Land, von dessen Träumen und Vorstellungen sie so gut wie nichts wusste und in dem sie niemanden so recht kannte. Vor allem aber wurde sie dort als Feindin wahrgenommen, und das mit Grund, denn das Gewicht von Jahrhunderten der Geschichte stand gegen sie.
Sie öffnete Narraways Koffer, ging an den Kleiderschrank, nahm seine Anzüge und Hemden heraus, faltete alles ordentlich zusammen und packte es ein. Dann zog sie die Kommodenschubladen auf, wobei sie sich vorkam, als stecke sie ihre Nase in Angelegenheiten, die sie nichts angingen, nahm seine Leibwäsche heraus und packte sie ebenfalls ein. Auch den Schlafanzug unter dem Kopfkissen vergaß sie nicht. Sein
zweites Paar Schuhe wickelte sie in ein Tuch, damit sie keine Schmutzspuren auf den Kleidungsstücken hinterließen, und legte sie zu dem Übrigen.
Als Nächstes wandte sie sich den Toilettenartikeln zu, wobei sie einige lange schwarze und graue Haare aus seiner Haarbürste entfernte. Was für ein persönlicher Gegenstand so eine Haarbürste doch war! Ihr folgten die Zahnbürste, sein Rasierzeug und eine kleine Kleiderbürste.
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