Der Verräter von Westminster
sein?«
»Wir sehen uns aber doch nicht im Geringsten ähnlich«, sagte er mit schiefem Lächeln.
»Dann eben Ihre Halbschwester, falls man fragt«, schlug sie vor.
»Natürlich haben Sie Recht«, räumte er ein. Seine Stimme klang müde. Jeglicher Anflug von Unernst war daraus verschwunden. Die Sache hatte ihn bis ins Mark getroffen, und ihm war bewusst, dass es töricht wäre, die einzige Hilfe zurückzuweisen, die man ihm angeboten hatte. »Aber Sie werden auf mich hören und tun, was ich Ihnen sage. Ich kann es mir nicht leisten, meine Zeit oder Kraft damit zu vergeuden, dass ich mich um Sie kümmern oder mir um Sie Sorgen machen muss. Sind wir uns in dem Punkt einig?«
»Unbedingt. Ich will niemandem etwas beweisen, sondern möchte, dass Sie Ihr Ziel erreichen.«
»Dann werde ich Sie übermorgen Vormittag um acht Uhr hier abholen und mit Ihnen zum Bahnhof fahren. Nehmen Sie Kleidung mit, die sich für lange Fußmärsche eignet, aber auch solche für Besuche in der Stadt und zumindest ein Abendkleid, für den Fall, dass wir ins Theater gehen sollten. Dublin ist für seine Theater berühmt. Aber nur einen Koffer.«
»Ich werde bereit sein.«
Er zögerte einen Augenblick, stieß dann die Luft aus und sagte: »Danke.«
Nach seinem Weggang kehrte Charlotte ins Wohnzimmer zurück. Gleich darauf klopfte es an der Tür.
»Herein«, sagte sie, bereit, der Haushälterin zu danken, weil sie eigens aufgeblieben war, ihr zu sagen, dass sie sie nicht mehr brauche und sie zu Bett gehen könne.
Mrs Waterman kam herein, schloss die Tür hinter sich und blieb stocksteif davor stehen. Ihr Gesicht hatte so gut wie alle Farbe verloren und trug den Ausdruck äußerster Missbilligung. Man hätte glauben können, dass sie einen verstopften Abfluss entdeckt hatte.
»Ich bedaure Ihn’n sag’n zu müss’n, Mrs Pitt«, begann sie, bevor Charlotte Gelegenheit gehabt hatte, den Mund aufzutun, »dass ich in Ihrem Haus unmöglich länger bleiben kann. Mein Gewissen lässt das nich zu.«
Charlotte war verblüfft. »Wovon sprechen Sie? Sie haben doch nichts Unrechtes getan.«
Mrs Waterman sagte naserümpfend: »Ich geb ja gerne zu, dass ich meine Fehler un’ Schwächen hab, wie wir alle. Aber ich war immer achtbar, Mrs Pitt. Niemand hätte mir je was and’res nachsag’n könn’n.«
»Das hat ja auch niemand getan.« Charlotte wusste nach wie vor nicht, worauf die Frau hinauswollte. »Niemand hat so etwas auch nur angedeutet.«
»Un’ so soll das auch bleib’n, falls Se mich versteh’n.« Mrs Waterman straffte die Schultern noch ein wenig mehr. »Daher geh ich gleich morg’n früh. Ich bedauer das, denn vermutlich wird das auch für Sie schwer werd’n, aber ich muss an mein’n gut’n Nam’n denk’n.«
»Wovon reden Sie eigentlich?« Allmählich wurde Charlotte ärgerlich. Mrs Waterman war nicht besonders angenehm im Umgang, aber im Laufe der Zeit würden sie beide vielleicht
lernen, einander gelten zu lassen. Die Frau tat ihre Arbeit, war fleißig und absolut zuverlässig – jedenfalls bisher. Jetzt, da Pitt auf unbestimmte Zeit nicht da sein würde und sich Narraways Situation in so katastrophaler Weise gewandelt hatte, war eine häusliche Krise das Letzte, was Charlotte brauchen konnte. Sie musste unbedingt mit ihm nach Irland. Falls Pitt seine Anstellung verlor, würden sie das Haus aufgeben müssen und möglicherweise schon bald nicht mehr wissen, wovon sie leben konnten. Unter Umständen würde er sich in einen gänzlich neuen Beruf einarbeiten müssen. Für einen Mann von Mitte vierzig wäre das ausgesprochen schwierig und würde Zeit kosten, ganz gleich, wie sehr er sich bemühte. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie schwierig die Lage werden konnte. Dabei waren ihr die Schande und die Peinlichkeit der ganzen Situation noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen. Wie um Himmels willen würden Daniel und Jemima die Veränderung aufnehmen? Keine hübschen Kleider mehr, keine Gesellschaften, und für den Jungen keinerlei Hoffnung auf einen guten Beruf. Er würde von Glück sagen können, wenn er sich nicht in einem oder zwei Jahren genötigt sähe, an Arbeit anzunehmen, was sich ihm bot, und Jemima würde in irgendeinem fremden Haushalt als Küchenmagd arbeiten müssen. Die Tränen begannen ihr in die Augen zu steigen.
»Sie können nicht gehen«, sagte sie aufgebracht. »Sollten Sie es dennoch tun, würde ich mich außerstande sehen, Ihnen eine Empfehlung auszustellen.« Letzteres war eine deutliche
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