Der Verräter von Westminster
sie an die näheren Umstände dachte, wuchs ihre Überzeugung, dass es so sein musste. Wie viele weitere Feinde mochte er haben? Die Menschen schätzten es nicht, wenn anderen private Dinge über sie bekannt waren, wie das bei Narraway der Fall war, und sie vergaßen es ihnen nicht.
Sie sah auf sein von der Lampe erhelltes Gesicht und senkte dann den Blick. Sie war nicht sicher, was sie sagen sollte, doch war ihr klar, dass Stillschweigen weder ihm noch Pitt etwas nützen würde.
»Was werden Sie tun?«, fragte sie erneut.
»Um Pitt zu helfen? Da sind mir die Hände gebunden; ich habe dazu keine Möglichkeiten mehr«, gab er zurück. »Mir sind die näheren Umstände nicht bekannt, und aufs Geratewohl einzugreifen, könnte mehr schaden als nützen.«
»Ich hatte mich mit dieser Frage nicht auf Thomas bezogen, sondern auf Sie.« Sie hatte ihn weder nach dem Grund seiner Amtsenthebung gefragt noch danach, ob er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, und falls ja, was das war. Mit einem Mal erschien ihr diese Unterlassung als so bedeutend, dass sie Luft holte, um etwas in dieser Richtung zu sagen. Dann aber kam ihr das ungeheuer taktlos vor, so dass sie schwieg.
Das Feuer im Kamin sank in sich zusammen.
Einige Sekunden verstrichen, dann sagte er: »Ich weiß nicht.« Sie konnte sich nicht erinnern, dass seine Stimme je so gezögert hätte. »Ich bin nicht einmal sicher, wer hinter der ganzen Sache steckt. Allerdings habe ich da eine gewisse Vorstellung. Es ist eine ziemlich … üble Geschichte.«
Um Pitts willen musste sie der Sache auf den Grund gehen. »Ist das ein Grund, sich nicht weiter damit zu beschäftigen?«, fragte sie ruhig. »Von selbst kommt das doch sicher nicht in Ordnung.«
Ein Lächeln blitzte auf seinem Gesicht auf. »Nein. Im Übrigen bin ich nicht einmal sicher, ob es überhaupt in Ordnung kommen kann.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte sie.
»Wie bitte?«, gab er verblüfft zurück.
»Etwas Besseres habe ich vermutlich nicht«, entschuldigte sie sich. »Aber es ist ungemütlich, wie Sie da am Kamin stehen. Wäre es nicht besser, sich zu setzen?«
Er drehte sich leicht zur Seite und trat nach einem Blick auf die Feuerstelle und die Kaminumrandung einen Schritt zurück. »Ach so, Sie meinen, dass ich dem wärmenden Feuer
den Zutritt zum Zimmer versperre«, sagte er mit gequältem Lächeln.
»Nein, wohl aber, dass ich einen steifen Hals bekomme, wenn ich den Kopf zur Seite drehen und zu Ihnen aufsehen muss.«
Einen Augenblick lang verschwand der gequälte Ausdruck von seinem Gesicht. »Vielen Dank, aber ich möchte Ihre Mrs … wie auch immer sie heißt, lieber nicht bemühen. Ich kann mich auch ohne Tee setzen, selbst wenn das vielleicht unnatürlich aussieht.«
»Mrs Waterman«, sagte sie.
»Ach ja.«
»Ich wollte ihn selbst machen, immer vorausgesetzt, dass sie mich in die Küche lässt. Sie missbilligt ein solches Verhalten. Ich nehme an, dass Damen der Kreise, für die sie gewöhnlich arbeitet, nicht einmal wissen, wo sich die Küche befindet.«
»Ein gewisser Abstieg für sie«, bemerkte Narraway. »Das kann den Besten von uns widerfahren.«
Er setzte sich, elegant wie immer, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück, als fühle er sich rundum wohl.
»Meiner Vermutung nach könnte es sich um einen alten Fall in Irland handeln«, begann er, wobei er ihr anfangs in die Augen sah, den Blick aber dann verlegen senkte. »Es sieht ganz so aus, als habe es damit zu tun, dass man einen in jüngster Zeit für uns dort tätigen Informanten umgebracht hat, weil ihn das Geld, das ich ihm angewiesen habe, nicht rechtzeitig erreichte, so dass er nicht vor denen fliehen konnte, die er … verraten hatte.« Er sagte das Wort »verraten« so, als untersuche er mit voller Absicht eine Wunde: seine eigene, nicht die eines anderen.
»Ich hatte die Zahlung auf Umwegen vorgenommen, damit man sie nicht zum Sicherheitsdienst zurückverfolgen konnte,
denn in dem Fall hätte es ihn umgehend das Leben gekostet. «
Zögernd suchte sie nach den passenden Worten, wobei sie ihn aufmerksam ansah. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ihr etwas vorenthalten wollte. Sie wartete. Im Raum herrschte völlige Stille, und auch von draußen drang kein Laut herein, weder von den Kindern, die oben schliefen, noch von Mrs Waterman, die vermutlich noch in der Küche war. Bestimmt würde sie ihr Zimmer nicht aufsuchen, solange der Besucher das Haus nicht verlassen hatte.
»Gerade weil ich
Weitere Kostenlose Bücher