Der Verräter von Westminster
geheiratet hat«, rief Lady Vespasia erstaunt aus. »Kann sie denn immer noch nicht selbst entscheiden, was sie kochen soll?«
»Mrs Waterman hat mir gestern Abend gekündigt und ist heute Morgen gegangen«, erläuterte Charlotte. »Gracie hat für mich eine junge Frau gefunden, die sie schon seit Kindertagen kennt, aber sie ist gerade erst angekommen und noch beim Auspacken.«
»Charlotte?« Vespasias Stimme klang besorgt. »Ist etwas Ernsthaftes vorgefallen?«
»Ja. Nun … wir leben alle noch und sind gesund, aber doch, es ist ernst. Ich weiß nicht recht, ob es klug ist, was ich mir vorgenommen habe, oder ob ich es lieber bleiben lassen soll.«
»Und da willst du mich um Rat bitten? Wenn du bereit bist, auf einen anderen Menschen zu hören, muss es sich in der Tat um etwas Ernsthaftes handeln«, sagte Lady Vespasia mit leichtem Spott in der Stimme, der aber lediglich ihre Besorgnis überdecken sollte.
»Genaugenommen«, gestand ihr Charlotte, »habe ich bereits mein Wort gegeben.« Als sie merkte, wie endgültig das klang, fröstelte sie unwillkürlich.
»Ich schicke dir sofort meinen Kutscher«, teilte ihr Lady Vespasia mit. »Wenn Gracie dir die neue Hilfe empfohlen hat, kannst du dich bestimmt auf sie verlassen. Nimm einen Umhang mit, der Abend ist ziemlich kühl.«
»Ja«, sagte Charlotte, verabschiedete sich und hängte den Hörer auf den Haken.
Eine halbe Stunde später klingelte Lady Vespasia Cumming-Goulds Kutscher an der Tür. Charlotte war überzeugt, das Haus unbesorgt verlassen zu können, als sie sah, dass Daniel und Jemima mit Minnie Maude nicht nur schon ein wenig warm geworden zu sein schienen, sondern ihr bereitwillig alle Schränke und Schubladen zeigten und ihr erklärten, was sie enthielten.
Charlotte bat den Kutscher, ein wenig zu warten, und ging noch einmal in die Küche. Einen Augenblick lang sah sie zu, wie Jemima mit ernster Miene Minnie Maude erklärte, in welchem Krug morgens jeweils die Milch geholt wurde und wo sie den Milchmann finden konnte. Daniel trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, weil auch er unbedingt Ratschläge von sich geben wollte, und Minnie Maude lächelte abwechselnd den beiden zu.
»Es kann sein, dass ich ziemlich spät zurückkomme«, unterbrach Charlotte die Unterhaltung der drei. »Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«
»Sehr wohl, Ma’ am«, sagte Minnie Maude rasch. »Aber das macht mir nix aus.«
»Danke, es ist wirklich nicht nötig«, teilte ihr Charlotte mit. »Gute Nacht.«
Sie ging hinaus und bestieg die Kutsche für die halbstündige Fahrt zu Lady Vespasias Haus, Gladstone Park. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Park, sondern um einen von blühenden Bäumen umstandenen viereckigen Platz. Unterwegs bemühte sie sich, ihre Gedanken zusammenzunehmen und zu überlegen, auf welche Weise sie Tante Vespasia darlegen wollte, was sie zu tun gedachte.
Das Mädchen führte sie in den in warmen, gedämpften Farben gehaltenen Salon, in dem Lady Vespasia, die sich noch
nie im Leben auf einer Sitzgelegenheit angelehnt hatte, mit durchgedrücktem Rücken kerzengerade dasaß. Die Vorhänge vor dem großen Fenster, das zum Garten ging, waren zugezogen, und im Kamin brannte leise knisternd ein Feuer. Charlotte merkte, dass es ihr nicht leichtfallen würde, darzulegen, was für eine verwegene Unternehmung sie sich vorgenommen hatte.
Lady Vespasia hatte in der höheren Gesellschaft einst nicht nur als schönste Frau ihrer Generation gegolten, sondern zugleich auch als ein Mensch, der mit großer Leidenschaft in solchen Kreisen unerhörte politische Ansichten vertrat. Die Jahre hatten durchaus Spuren in ihren Zügen hinterlassen, ihr Temperament aber eher noch verstärkt. Angesichts ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung und ihrer gesicherten finanziellen Verhältnisse brauchte sie sich nicht darum zu kümmern, was andere von ihr dachten, und so tat sie, was sie für richtig hielt. Kritik mochte schmerzlich sein, doch die Zeit, da sie sich dadurch von etwas hatte abhalten lassen, lag lange zurück.
Anders als bei Charlotte, deren Frisur immer dazu neigte, sich aufzulösen, saß Lady Vespasias silbergraues Haar in vollkommener Weise. Ein hoher Spitzenkragen umschloss ihren Hals, und eine dreireihige Perlenkette schimmerte im Licht der Lampen.
»Wir essen erst in einer Stunde«, teilte sie Charlotte mit, »du hast also Zeit, mir die ganze Geschichte ausführlich zu erzählen. «
Was den Anfang betraf, hatte Charlotte keine
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