Der Verräter von Westminster
Zweifel. »Vor vier Tagen ist Mr Narraway abends in die Keppel Street gekommen, um mir mitzuteilen, dass Thomas und sein Mitarbeiter einen Mann, der nahezu vor ihren Augen einen Mord begangen hatte, bis über den Kanal nach Frankreich verfolgen mussten, ohne vorher jemanden darüber informieren zu können.
Von Frankreich aus haben sie Mr Narraway ein Telegramm geschickt. Er hat mir das Ganze persönlich berichtet, damit ich mir wegen Thomas’ Ausbleiben keine Sorgen machte.«
Vespasia nickte. »Das war sehr aufmerksam von ihm«, bemerkte sie trocken.
Der spöttische Unterton in ihrer Stimme entging Charlotte nicht, und sie hob fragend den Blick.
»Er hat ein Auge auf dich geworfen, meine Liebe«, erklärte ihr Lady Vespasia mit kaum verhüllter Belustigung. »Aber was hat das mit deiner Hausangestellten zu tun?«
Charlotte sah nacheinander auf die zugezogenen Vorhänge und den Teppich mit dem blassen Blumenmuster. »Er ist gestern Abend noch einmal gekommen«, sagte sie ruhig. »Und sehr viel länger geblieben.«
Mit kaum wahrnehmbar veränderter Stimme sagte Lady Vespasia: »Ach ja?«
Charlotte hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Im Sicherheitsdienst scheint es eine Art Verschwörung zu geben, deren Ziel es ist, den Eindruck zu erwecken, als habe Mr Narraway einen ziemlich hohen Geldbetrag unterschlagen.« Als sie Lady Vespasias ungläubigen Blick sah, fügte sie hinzu: »Man hat ihn wegen dieses Vorwurfs von einem Augenblick auf den anderen seines Amtes enthoben.«
»Ach je«, sagte Lady Vespasia. Es klang vieldeutig. »Jetzt verstehe ich, warum du so betroffen bist. Das ist in der Tat eine ernsthafte Geschichte. Victor hat gewiss seine Schwächen, aber Veruntreuung von Geldern gehört nicht dazu. Geld interessiert ihn nicht und bedeutet für ihn daher nicht die geringste Versuchung.«
Charlotte erschien diese Äußerung nicht gerade beruhigend. Welche Schwächen meinte Tante Vespasia da wohl? Sie schien ihn erstaunlich gut zu kennen. Zwar hatte sie sich für
eine ganze Reihe von Pitts und damit Narraways Fällen interessiert, doch das war Charlottes Ansicht nach keine hinreichende Erklärung. Während sie Lady Vespasias Gesicht musterte, begriff sie, dass diese sich große Sorgen um Narraway machte, und das bestärkte sie in ihrer Ansicht, dass sie dessen Worten uneingeschränkt Glauben schenken durfte.
Sie spürte, wie ihre Anspannung nachließ. Lächelnd sagte sie: »Ich hatte ihm das auch nicht zugetraut. Allerdings scheint es in seiner Vergangenheit etwas zu geben, was ihn zutiefst beunruhigt. «
»Das dürfte eine ganze Menge sein«, gab Lady Vespasia mit dem Anflug eines Lächelns zurück. »Er hat viele Facetten, aber nichts liegt ihm mehr am Herzen als seine Arbeit, und auf diesem Gebiet ist er am verwundbarsten.«
»Dann würde er ja wohl selbst nichts tun, um seine Anstellung aufs Spiel zu setzen, nicht wahr?«
»Bestimmt nicht. Offensichtlich ist es jemandem wichtig, ihn aus dem Amt zu drängen und zu erreichen, dass er bei der Regierung Ihrer Majestät jede Glaubwürdigkeit einbüßt. Dafür kann man sich eine ganze Reihe von Gründen denken, und da ich nicht ahne, welcher hier in Frage kommen könnte, weiß ich auch nicht recht, wo ich anfangen soll.«
»Wir müssen ihm helfen.« Es war Charlotte alles andere als recht, mit dieser Bitte an Tante Vespasia heranzutreten, aber Not kannte nun einmal kein Gebot. »Es geht ja nicht nur um ihn, sondern auch um Thomas. Er gilt in Lisson Grove als Mr Narraways Schützling. Wenn Narraway nicht mehr da ist, besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Anstifter dieser Intrige als Nächstes versuchen werden, auch Thomas aus dem Weg zu räumen …«
»Das versteht sich von selbst, du brauchst es mir also nicht ausdrücklich zu erklären, meine Liebe«, fiel ihr Lady Vespasia
ins Wort. »Da er in Frankreich ist, weiß er nichts von dem Vorfall, und Victor kann ihm von hier aus nicht mehr die nötige Unterstützung gewähren.«
»Hättest du Freunde, die …«, setzte Charlotte an.
»Da mir das Motiv unbekannt ist und ich nicht weiß, wer dahintersteckt«, gab Lady Vespasia zur Antwort, bevor Charlotte ihre Frage beenden konnte, »wüsste ich nicht, wem ich in diesem Zusammenhang vertrauen könnte.«
»Victor … Mr Narraway …« Charlotte spürte, wie ihr eine leichte Hitze ins Gesicht stieg. »… vermutet, dass es mit einem Fall in Irland zu tun haben könnte, der zwanzig Jahre zurückliegt und für den sich jemand an ihm rächen möchte.
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