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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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fürchtete, in der scheinbar entspannten Atmosphäre einen Fehler zu begehen, der diesem sicher sofort auffallen würde. Ob Gower bereits etwas argwöhnte? War ihm bewusst, dass Pitt seine Tarnung durchschaut hatte? Während er durch die ihm inzwischen vertrauten Straßen dem Hafen entgegenstrebte, fiel es
ihm schwer, sich nicht umzusehen, ob man ihm folgte. Würde er hinter sich die blonde Mähne Gowers sehen, der die meisten Männer überragte? Oder hatte er bereits sein Aussehen verändert und folgte ihm mit wenigen Schritten Abstand, ohne dass er etwas davon ahnte?
    Doch das wäre gar nicht nötig, denn zu seinen Verbündeten, Frobishers oder Wrexhams Leuten, konnte jeder Beliebige gehören. Wie wäre es beispielsweise mit dem Hafenarbeiter im Seemannspullover, der in einem Hauseingang die erste Zigarette des Tages rauchte, dem Mann, der auf einem Fahrrad über die Pflastersteine schaukelte, wenn nicht gar mit der jungen Frau mit dem Wäschekorb? Wieso nahm er an, dass Gower ihm selbst folgen würde? Wieso nahm er überhaupt an, dass er etwas gemerkt hatte? Dieser neue Gedanke vertrieb beinahe alle anderen Erwägungen. Wie ichbezogen war es von ihm, zu vermuten, dass Gower nichts Wichtigeres zu tun hatte, als hinter seine Gedanken zu kommen! Vielleicht ließen Pitt und was er wusste oder zu wissen glaubte, ihn ohnehin völlig kalt.
    Während er den Schritt beschleunigte, kam er an einer Gruppe von Reisenden mit prall gefüllten Koffern und schweren Reisetaschen vorüber. Am Hafen sah er sich um, als suche er einen Bekannten, und war erleichtert, ausschließlich unbekannte Gesichter zu sehen. Er merkte, dass der Wind aufgefrischt hatte und den Geruch von Salz mit sich brachte.
    Zweimal musste er sich in eine Schlange einreihen – vor dem Fahrkartenschalter und an der Landungsbrücke. Sobald er das leichte Schwanken des Decks unter seinen Füßen spürte, fühlte er sich in Sicherheit.
    Pitt stand an der Reling und hielt den Blick auf die Landungsbrücke und den Kai gerichtet. Über ihm schossen kreischend die Möwen durch die Luft. Er hoffte, dass er aussah wie jemand, der voll angenehmer Erinnerungen einen letzten
Blick zurück auf die Stadt wirft, in der er angenehme Ferien verbracht hatte, vielleicht bei Freunden, die er möglicherweise ein ganzes Jahr lang nicht wiedersehen würde. In Wahrheit achtete er auf die Menschen dort, um zu sehen, ob in der Menge ein bekanntes Gesicht auftauchte, einer der Männer, die er Frobishers Haus hatte betreten und verlassen sehen, wenn nicht gar Gower selbst.
    Zweimal glaubte er, ihn entdeckt zu haben, doch beide Male war es ein Fremder. Es hatte einfach an den hellen Haaren gelegen oder an der Art, wie der Betreffende den Kopf hielt. Pitt schalt sich töricht wegen der Angst, die er empfand, während in Wahrheit womöglich keinerlei Gefahr bestand. Vielleicht reichte diese Angst so tief, weil ihm am Vortag auf dem Rückweg in die Stadt zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, dass Gower der Mörder Wests war und es sich bei Wrexham lediglich um einen Mitwisser, wenn nicht gar um einen gänzlich Unschuldigen, handelte. Er konnte ohne weiteres jemand sein, der sich als Sozialist ausgab und sich ähnlich wie Frobisher als Fanatiker aufspielte. Was Pitt bestürzt hatte, war das Entsetzen, mit dem ihm aufgegangen war, wie blind und dumm er gewesen war, wie wenig er andere Möglichkeiten in Erwägung gezogen hatte. Er würde sich schämen, wenn er Narraway davon berichtete, aber ihm würde nichts anderes übrigbleiben. Um dies Eingeständnis würde er nicht herumkommen.
    Endlich wurde der Anker gelichtet, und die Fähre lief aus. Pitt blieb an der Reling stehen und sah zu, wie die Türme und Mauern der Stadt kleiner wurden. Auf dem Wasser tanzte glitzernd das Sonnenlicht. An der Ausfahrt des Hafens schwappte und schlug das auflaufende Wasser gegen den Fuß der dortigen Befestigungsanlage. So früh am Vormittag sah man nur wenige Segelboote: Fischer, die in aller Herrgottsfrühe hinausgefahren waren, um ihre Hummerkörbe einzuholen.

    Er versuchte, sich das Bild einzuprägen, um Charlotte berichten zu können, wie schön das alles war. Er würde ihr schildern, was er gesehen, gehört und geschmeckt hatte, seinen Eindruck, in frühere Zeiten zurückversetzt worden zu sein. Er nahm sich vor, eines Tages mit ihr dorthin zu fahren und mit ihr in einem der Gasthöfe zu essen, wo es so herrliche Muschelgerichte, Austern und Hummer gab. Charlotte kam so gut wie nie aus London heraus, von

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