Der Verräter von Westminster
Auslandsreisen ganz zu schweigen. Bestimmt würde sie das freuen; es wäre einmal etwas anderes. So lebhaft stellte er sich vor, sie wiederzusehen, dass er den Duft ihres Haares zu riechen und den Klang ihrer Stimme zu hören glaubte. Er würde sich nicht lange bei dem aufhalten, was ihn nach Frankreich geführt hatte, sondern ihr nur die guten Dinge berichten.
Jemand stieß ihn an, und er reagierte nicht sogleich. Dann überlief ihn ein Schauder, als er merkte, wie unaufmerksam er gewesen war.
Der Mann entschuldigte sich.
Nur mit Mühe gelang es Pitt zu sprechen. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. »Nicht weiter schlimm.«
Der Mann lächelte. »Es hat mich von den Beinen gehauen. Bin nicht an den Seegang gewöhnt.«
Pitt nickte, trat aber von der Reling zurück und suchte den Salon auf. Dort blieb er während der ganzen Überfahrt, trank Tee und frühstückte: frisches Brot, Käse und einige Scheiben Schinken. Er gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, als fühle er sich wohl.
Als er mit dem kleinen Koffer, den er in Saint Malo gekauft hatte, in Southampton an Land ging, sah er aus wie ein beliebiger Reisender, der aus den Ferien zurückkehrte. Es war Mittag. Im Hafen wimmelte es von Menschen.
Er suchte unverzüglich den Bahnhof auf, um den ersten Zug nach London zu nehmen. Dort würde er als Erstes nach
Hause gehen, um sich zu waschen und umzuziehen. Mit etwas Glück würde er sogar noch rechtzeitig nach Lisson Grove kommen, um Narraway dort zu treffen, bevor dieser Feierabend machte. Falls nicht, würde er ihn zumindest anrufen, um sich mit ihm irgendwo zu verabreden. Angesichts dessen, was er ihm über Gower mitzuteilen hatte, dürfte ein Treffen bei Narraway zu Hause wohl am besten ein. Wie gut, dass es Telefone gab!
Inzwischen fühlte er sich besser. Frankreich schien in weiter Ferne zu liegen, und er hatte auf der Fähre keine Spur von Gower gesehen. Seine Erklärung hatte ihm wohl eingeleuchtet.
Der Bahnhof war voller Menschen, die alle ziemlich schlecht gelaunt zu sein schienen. Den Grund dafür erfuhr er, als er seine Fahrkarte nach London löste.
»Tut mir leid, Sir«, sagte der Mann hinter dem Schalter. »Wir haben in Shoreham-by-Sea eine technische Störung. Sie müssen mit Verspätung rechnen.«
»Wie lang wird die sein?«
»Das kann ich nicht sagen, Sir. Vielleicht eine Stunde oder länger.«
»Aber der Zug fährt doch?«, fragte Pitt nach. Mit einem Mal konnte er es nicht abwarten, Southampton zu verlassen, als schwebe er nach wie vor in Gefahr.
»Ja, Sir. Wollen Sie jetzt die Fahrkarte oder nicht?«
»Ja. Es gibt ja wohl keine andere Möglichkeit, nach London zu kommen, oder?«
»Nein, Sir. Es sei denn, Sie wollen eine andere Strecke fahren. Manche tun das, aber es ist ein Umweg und kostet mehr. Ich denke, dass die Schwierigkeit bald behoben ist.«
»Danke. Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte nach London. «
»Hin und zurück, Sir? Erste, zweite oder dritte Klasse?«
»Nur Hinfahrt und bitte zweite Klasse.«
Er bezahlte und ging auf den Bahnsteig, der sich mit immer mehr Menschen füllte. Das Gedränge war so dicht, dass er nicht einmal auf und ab gehen konnte, um seine Anspannung abzubauen. Anderen schien es ähnlich zu gehen. Frauen versuchten quengelnde Kinder zu beruhigen, Geschäftsleute zogen immer wieder prüfend die Uhr aus der Westentasche. Pitt sah sich fortwährend um, aber es gab keinen Hinweis auf Gower, obwohl er nicht sicher war, dass er ihn in der immer mehr anwachsenden Menschenmenge erkennen würde.
Als es auch um zwei Uhr nach wie vor keinen Hinweis auf eine bevorstehende Abfahrt gab, kaufte er ein belegtes Brot und ein großes Glas Apfelwein. Um drei Uhr stieg er schließlich in einen Zug nach Worthing, in der Hoffnung, von dort auf einer anderen Strecke nach London zu kommen. Zumindest hatte er die Illusion, dass es voranging. Während er im letzten Waggon einen freien Platz suchte, hatte er wieder den Eindruck, entkommen zu sein.
Mit Glück fand er in dem recht vollen Waggon einen Sitzplatz. Alle Fahrgäste hatten schon ziemlich lange gewartet; sie waren müde, besorgt und freuten sich darauf, nach Hause zu kommen. Eine Frau hielt ein etwa zwei Jahre altes weinendes Mädchen tröstend in den Armen. Während sich die Kleine schniefend die Augen rieb, musste Pitt unwillkürlich an Jemima denken. Wie lange es zurücklag, dass sie in jenem Alter gewesen war! Pitt nahm an, dass die Frau Ferien gemacht hatte und jetzt nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
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