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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gegeben, an deren Ende es oft zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war. Doch nach seiner Beförderung zum Leiter der Wache in der Bow Street hatte er als Angehöriger der Kriminalpolizei in gehobener
Position nahezu ausschließlich seinen Verstand eingesetzt. Es hatte lange Tage und noch längere Nächte gegeben, in denen die seelische Belastung gewaltig gewesen war, der Druck, einen Fall zu lösen, bevor ein Mörder erneut zuschlug, die Öffentlichkeit sich empörte und die Polizei als unfähig hingestellt wurde. Auf die Festnahme war dann die Aussage bei der Gerichtsverhandlung gefolgt. Am schlimmsten von allem aber war die Besorgnis gewesen, nicht den wahren Täter gefasst zu haben. Diese Unsicherheit hatte ihn so manche Nacht nicht schlafen lassen. Was, wenn er sich geirrt, eine falsche Schlussfolgerung gezogen, etwas übersehen hatte, einer Lüge aufgesessen war, mit dem Ergebnis, dass man den falschen Mann oder die falsche Frau dem Henker überantwortete?
    All das hatte aber nichts mit körperlicher Gewalttätigkeit zu tun gehabt, und die geistige Auseinandersetzung hatte sein eigenes Leben nicht bedroht.
    Als es vollends dunkel wurde, erhob sich eine frische Brise. Ihn fröstelte, und zugleich brach ihm der Schweiß aus. Er musste sich beherrschen. Gower würde es merken, wenn er nervös war; er würde sicherlich auf solche Anzeichen achten. Dann wäre es für ihn das Nächstliegende zu vermuten, dass Pitt ihn durchschaut hatte.
    Er musste sich jetzt jedes Wort genau überlegen, das er sagen würde, durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.
     
    Gower war bereits zu Hause, als Pitt eintrat. Er saß in einem behaglichen Sessel, ein Glas Wein auf dem Tischchen neben sich, und las in einer französischen Zeitung. Trotzdem sah er sehr englisch aus, was wohl auch an seinem unübersehbaren Sonnenbrand lag. Bei Pitts Eintreten hob er den Blick, lächelte, als er dessen schmutzige Stiefel sah, und stand auf.
    »Kann ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«, fragte er. »Ich nehme an, Sie haben Hunger.«

    Sogleich überfielen Pitt Zweifel. War seine Annahme lachhaft, dieser Mann habe blitzschnell und brutal West getötet und sich dann mit Unschuldsmiene daran gemacht, gemeinsam mit Pitt Wrexham bis Southampton und über den Ärmelkanal bis hierher in die Bretagne zu verfolgen?
    Er durfte nicht zögern. Gower erwartete eine Antwort auf seine Frage, und sie musste natürlich und unbefangen klingen.
    »Ja«, sagte er mit schiefem Lächeln, während er sich in den anderen Sessel fallen ließ. Dabei merkte er erst richtig, wie erschöpft er war. »Eine so lange Strecke bin ich schon lange nicht mehr marschiert.«
    »Sind wohl an die fünfzehn Kilometer?« Gower hob die Brauen. Er stellte Pitt den Wein hin. »Haben Sie überhaupt etwas zu Mittag gehabt?« Er nahm wieder Platz und sah neugierig zu Pitt her.
    »Brot mit Käse und ein gutes Glas Wein«, gab Pitt zurück. »Ich bin zwar nicht sicher, ob Rotwein und Käse gut miteinander harmonieren, aber es hat gut geschmeckt, wenn es auch kein Stilton war«, fügte er rasch hinzu für den Fall, dass Gower annahm, er wisse nicht, dass ein Herr zum Portwein ein wenig Stilton zu nehmen pflegte. Sie saßen wie Freunde beim Wein zusammen und unterhielten sich über Fragen der Etikette, als habe es keinen Toten gegeben und als stünden sie beide auf derselben Seite. Er musste sorgfältig darauf achten, sich durch diese absurde Situation auf keinen Fall von der tödlichen Wirklichkeit ablenken zu lassen.
    »Und war es der Mühe wert?«, erkundigte sich Gower. In seiner Stimme lag nicht der kleinste verräterische Hinweis, und seine sehnige Hand, die das Glas hielt, zitterte nicht im Geringsten.
    »Durchaus«, sagte Pitt. »Der Mann hat meine Vermutung bestätigt. Er hält Frobisher für einen Maulhelden und Schaumschläger.
Er sagt, er führe seit Jahren große Reden über radikale Gesellschaftsreformen, gebe sich selbst aber nach wie vor dem Wohlleben hin. Gelegentlich soll er für wohltätige Zwecke spenden – aber das tut fast jeder, der Geld hat. Damit, dass er die Leute erschreckt, indem er davon spricht, man müsse etwas tun, wolle er lediglich Aufmerksamkeit erregen, ohne von seinem Luxusleben zu lassen.«
    »Und Wrexham?«, fragte Gower.
    Einen Augenblick lang trat Schweigen ein. Von draußen hörte man Hundegebell, irgendwo sang jemand, und Gelächter erscholl.
    »Bei ihm scheint die Sache anders auszusehen«, gab Pitt zurück. »Das wissen wir ja aus

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