Der Verräter von Westminster
Aus Mitgefühl unterhielt er sich zwei Stationen lang mit ihr. Als die schaukelnden Bewegungen des Zuges die Kleine in den Schlaf gewiegt hatte, entspannte sich schließlich auch die Mutter.
Manche Fahrgäste stiegen schon in Bognor Regis aus und noch mehr in Angmering. Als der Zug in Worthing einlief,
befanden sich nur noch etwa ein halbes Dutzend Personen in Pitts Waggon.
»Tut mir leid«, sagte der Schaffner, schob die Mütze ein wenig hoch und kratzte sich am Kopf. »Weiter geht es nicht, solange das Gleis bei Shoreham nicht geräumt ist.«
Es gab einiges Murren unter den wenigen Fahrgästen, doch alle stiegen aus. Sie wanderten unruhig auf dem Bahnsteig auf und ab, gingen den Gepäckträgern und dem Schaffner mit Fragen auf die Nerven, die niemand beantworten konnte, oder suchten den Wartesaal auf, wo schon Fahrgäste aus den anderen Waggons saßen.
Pitt nahm eine Zeitung zur Hand, die jemand hatte liegen lassen, und überflog die Schlagzeilen. Nichts Besonderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, und jedes Mal, wenn jemand vorüberkam, hob er den Blick in der Hoffnung, man werde die bevorstehende Abfahrt des Zuges ankündigen.
Während sich der Nachmittag scheinbar endlos in die Länge zog, stand er ein oder zwei Mal auf und ging den ganzen Bahnsteig auf und ab. Er nahm sich zusammen, um den Schaffner nicht mit Fragen zu behelligen, da ihm klar war, dass der Arme die Sache vermutlich ebenso unerfreulich fand wie alle anderen Wartenden und ihnen die erhoffte Mitteilung nur allzu gern gemacht hätte.
Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte, konnten sie endlich in einen bereitgestellten Zug steigen, der langsam aus dem Bahnhof dampfte. Es war erstaunlich, wie erleichtert alle waren. Dabei hatte niemand von ihnen Entbehrungen leiden müssen oder in Gefahr geschwebt. Dennoch lächelten alle, redeten miteinander, und einige lachten sogar glücklich.
Der nächste Bahnhof war Shoreham-by-Sea, der Ort, an dem das Gleis unterbrochen gewesen war, dann kam Hove. Inzwischen war es bald dunkel, und das letzte Sonnenlicht warf scharfe Schatten. In Pitts Augen war diese Abendstunde
von ganz besonderer Schönheit. Sie erfüllte ihn mit einem Hauch von Wehmut. Noch stärker empfand er das im Herbst, wenn die abgeernteten Felder gelblich schimmerten und auf den Äckern die zusammengesetzten Garben wie Überreste eines vergessenen Zeitalters aufragten, das noch keine Industrialisierung berührt hatte. Es erinnerte ihn jedes Mal an seine Kindheit auf dem großen Gut, auf dem seine Eltern gearbeitet hatten, an die Wälder und Felder, und er empfand ein sonderbares Gefühl der Zugehörigkeit.
Da er sich mit einem Mal durch das Abteil beengt fühlte, stand er auf, ging ans Ende des Waggons und trat auf die kleine Plattform dort hinaus. Auf diesen Plattformen rauchten gewöhnlich Männer ihre Zigarren, um Mitreisende nicht zu belästigen. Es war schön, dort zu stehen, den Fahrtwind zu spüren und den Geruch frisch gepflügter Erde und feuchter Wälder in sich aufzunehmen. Nicht viele Züge hatten solche Plattformen. Irgendwo hatte er gehört, dass diese Einrichtung aus Amerika stammte. Sie gefiel ihm sehr.
Auch wenn es draußen recht kühl war, empfand er die Atmosphäre als angenehm und blieb dort stehen, während es rasch immer dunkler wurde. Dicke Wolken zogen von Norden heran. Wahrscheinlich würde es irgendwann in der Nacht regnen.
Er überlegte, was er Narraway über die Verfolgung Wrexhams sagen wollte, die sie nach Frankreich geführt hatte und die er inzwischen als vollständigen Fehlschlag einschätzte. Auch musste er sich darüber klarwerden, wie er ihm die Schlussfolgerungen erklären wollte, zu denen er in Bezug auf Gower gelangt war, und seine Blindheit, die ihn daran gehindert hatte, von Anfang an die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Als Nächstes malte er sich voll Vorfreude das Wiedersehen mit Charlotte aus. Wie schön es sein würde, wieder zu Hause zu sein, wo er nur den Blick zu heben brauchte, um zu
sehen, wie sie ihm zulächelte. Sofern sie der Ansicht war, dass er sich töricht verhalten hatte, würde sie das auf keinen Fall sagen – jedenfalls nicht gleich. Sie würde warten, bis er selbst darauf zu sprechen kam, und ihm dann betrübt zustimmen. Das würde die Sache für ihn weit weniger unangenehm machen.
Inzwischen war es praktisch Nacht; wegen der Wolken war die Dunkelheit rascher als gewöhnlich hereingebrochen.
Mit einem Mal spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Wegen des
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