Der Verräter von Westminster
dass er West die Kehle durchgeschnitten hat, doch als ich die Sache in aller Ruhe Schritt für Schritt überdacht habe, ist mir aufgegangen, dass er es nicht gewesen sein konnte, denn vor West war schon eine Blutlache am Boden, als wir eintrafen. Sie waren bei der Verfolgung immer an der Spitze, bis hin zur Fähre. Ich hatte Sie damals für besonders klug gehalten, doch dann ist mir aufgegangen, wie einfach das alles war. Immer haben Sie den Mann angeblich wieder aufgespürt, wenn wir seine Fährte verloren hatten, und immer wieder darauf bestanden, ihn nicht festzunehmen.
Diese ganze angebliche Verfolgungsjagd hatte keinen anderen Zweck als den, mich aus London fortzulocken.«
Gower lachte kurz auf. »Der berühmte Pitt, auf den Narraway so große Stücke hält. Sie haben eine volle Woche gebraucht, um dahinterzukommen! Sie werden allmählich langsam – wenn Sie es nicht schon immer waren und bis jetzt einfach Glück hatten.«
Unvermittelt stürzte er sich mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern auf Pitt, um dessen Kehle zu umkrallen. Diesmal aber war Pitt auf den Angriff vorbereitet. Geduckt stürmte er mit dem Kopf voran auf Gower los und traf ihn unmittelbar über der Gürtellinie so heftig in den Bauch, dass er keuchen musste. Dann streckte er seine Beine, so dass Gower vom Boden emporgehoben wurde und, von seinem eigenen Schwung getragen, über das Geländer in der Dunkelheit verschwand. Auch wenn Pitt den Aufprall nicht hörte, war ihm mit tiefem Bedauern bewusst, dass Gower sofort tot sein musste. Niemand konnte einen solchen Sturz überleben.
Langsam richtete er sich auf, am ganzen Leibe zitternd. Fast hätten seine Beine unter ihm nachgegeben, so dass er sich am Geländer festhalten musste.
Wieder schlug die Waggontür zu, dann öffnete sie sich. Der Schaffner stand mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen da, die Laterne in der Hand. Hinter ihm leuchteten gelblich die Lampen im Waggon.
»Se sind ja wahnsinnig!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
»Er wollte mich umbringen!«, begehrte Pitt auf und tat einen Schritt auf den Schaffner zu.
Dieser riss seine Laterne wie einen Schild vor sich hoch und stieß mit vor Entsetzen schriller Stimme hervor: »Rühr’n Se mich ja nich’ an! Ich hab hier ’n halbes Dutzend starker Männer, die mit Ihn’n fertig werd’n. Se sind ja total verrückt. Se
ham auch den arm’n Mr Summers umgebracht, der rausgegang’n war, um dem ander’n Mann zu helf ’n.«
»Ich habe nichts dergleichen …«, setzte Pitt an, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Zwei kräftig gebaute Männer waren hinter dem Schaffner aufgebaut. Der eine schwang drohend einen Knotenstock, während der andere einen Regenschirm mit scharfer Metallspitze wie eine Waffe vor sich hielt.
» Wir sperr’n Se im Packwag’n ein«, fuhr der Schaffner fort. »Un’ wenn wir Se dafür bewusstlos schlag’n müss’n. Se müss’n ’s nur sag’n. Ich konnte Mr Summers gut leiden. Er war ’n anständiger Kerl.«
Pitt dachte nicht daran, es mit diesen dreien aufzunehmen, und so ging er benommen und voll Entsetzen über das, was er getan hatte, widerstandslos mit ihnen.
KAPITEL 7
»Du kanns nicht mitkommen«, sagte Charlotte mit Nachdruck. Es war früher Nachmittag, und sie stand in ihrem besten Frühjahrskostüm, zu dem sie die herrliche neue Bluse angezogen hatte, im Speiseraum von Mrs Hogans Pension. Es war ihr fast nicht recht, zu sehen, wie gut ihr die Bluse stand. Zusammen mit einem einfachen dunklen Rock wirkte sie schlicht gesagt hinreißend. »Da kennt dich bestimmt jemand«, fügte sie hinzu.
Narraway hatte sich ganz offensichtlich ebenfalls die größte Mühe gegeben. Sein Hemd war makellos, seine Krawatte saß einwandfrei, und sein dichtes Haar war tadellos gekämmt.
»Es geht nicht anders«, gab er zurück. »Ich muss unbedingt mit Talulla Lawless sprechen. Das kann ich nur an einem sozusagen öffentlichen Ort, weil sie mich sonst bezichtigen würde, mich an ihr vergangen zu haben. Das hat sie früher schon einmal versucht und mir klargemacht, dass sie es wieder tun würde, wenn ich es wagen sollte, mit ihr unter vier Augen zusammenzutreffen. Ich weiß, dass sie heute Nachmittag zu dem Konzert gehen will. Bei den vielen Menschen dort wird man nicht sonderlich auf uns achten.«
»Es genügt, wenn dich nur ein Einziger erkennt, denn der würde es sofort allen anderen sagen«, gab sie zu bedenken.
»Was kann ich dann noch Sinnvolles erreichen? Man würde hinter
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