Der Verrat
meine Mutter zum ersten Mal weinen sah. Sie war eine starke Frau – musste stark sein, um ihr Leben und ihre berufliche Karriere in Amerika aufzugeben und die Frau meines Vaters zu werden –, und bis zu dem Augenblick, wo ich eines Besseren belehrt wurde, hatte ich geglaubt, sie könne gar nicht weinen.
Eines Tages kam unsere Nachbarin Mrs. Suzuki am frühen Nachmittag in unsere Schule, um mich abzuholen. Sie sagte nur, dass ich zu Hause gebraucht würde. Es war Juni, und die Luft im Zug auf der Heimfahrt war schwül und heiß und stickig. Ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster und fragte mich vage, was wohl los war, aber eigentlich war ich überzeugt, dass alles in Ordnung sei und ich schon bald alles erklärt bekäme.
Meine Mutter wartete in der Tür unserer kleinen Tokioter Wohnung. Sie dankte Mrs. Suzuki, die sich besonders tief und förmlich verbeugte, ehe sie wortlos ging. Dann schloss meine Mutter die Tür und ging mit mir zu der gepolsterten Couch im Wohnzimmer. Ihr Verhalten war so feierlich und ernst, dass ich es seltsam und irgendwie beängstigend fand. Sie nahm meine kleinen Hände und schaute mir in die Augen. Ihr Blick wirkte fremd – schwach und irgendwie verstört –, und ich schaute mich verlegen um, hatte Angst, sie anzusehen.
»Jun«, sagte sie mit unnatürlich leiser Stimme. »Ich habe dir etwas Schlimmes zu sagen, und du musst jetzt sehr tapfer sein, so tapfer, wie du nur kannst.« Ich nickte rasch, um ihr zu zeigen, dass sie sich natürlich immer auf meine Tapferkeit verlassen konnte, aber ich spürte, wie Kinder das können, dass etwas Schreckliches passiert war, und meine Angst breitete sich aus, bis sie in mir allen Raum einnahm.
»Es hat einen Unfall gegeben«, sagte sie, »und Papa … Papa ist gestorben. Nakunatta no. « Er ist tot.
Der Gedanke an den Tod war mir nicht völlig neu. Meine Großeltern väterlicherseits hatten einen Hund, der starb, als ich vier war. Meine Mutter hatte mir damals erklärt, das Hanzu, Hans, schon sehr alt gewesen sei und im Himmel wäre. Aber die Vorstellung, dass mein Vater tot sein könnte, tot, war viel zu gewaltig, als dass ich sie hätte begreifen können. Ich schüttelte verständnislos den Kopf, und in dem Augenblick verlor meine Mutter die Fassung und brach in Tränen aus.
An diesem Nachmittag machte ich zum ersten Mal richtig Bekanntschaft mit dem Tod als dem Einzigen, was meine Mutter zum Weinen bringen konnte.
Dann weinte ich mit ihr, schreckliche Tränen voller Schmerz und Angst und Verwirrung. Und in den Wochen und Monaten danach, als ich ganz allmählich spürte, dass mein Vater fort war, obwohl er doch zuvor eine so alles beherrschende Gestalt in meinem Leben gewesen war, vertiefte sich meine Bekanntschaft mit dem Tod. Er wurde für mich ein Joker in einem zuvor geordneten Universum, der jähe Zerstörer, der boshafte, lauernde Räuber.
Ich brauchte noch ungefähr fünf Jahre, um wirklich zu begreifen, dass es keinen Papa mehr gab, dass er nur noch aus immer schwächer werdenden Erinnerungen bestand, wie eine Reihe von primitiven Höhlenmalereien, die von längst verschwundenen Menschen zurückgelassen wurden. Nun war für mich der Tod ein Ort, der Menschen für immer verschluckte, wenn sie starben, ein Ort, der danach sogar die Klarheit der Erinnerung aufsaugte und sie auf eine ähnliche Reise ohne Wiederkehr mitnahm.
Mit neunzehn erhielt ich beim Militär per Telegramm die Nachricht, dass auch meine Mutter von diesem Ort verschluckt worden war. Sie zu verlieren war leichter. Ich war älter und hatte als Soldat in Vietnam den Tod schon häufig gesehen und, ja, auch gebracht. Am wichtigsten jedoch war vielleicht, dass mir der Ablauf, die Folgen von Schmerz und Verlust vertraut waren. Trauer barg für mich kein größeres Geheimnis als eine blutende Wunde, die irgendwann verkrustet und schließlich verheilt.
Doch Vertrautheit verringert nur die Angst. Was den Schmerz angeht, leistet sie erheblich weniger.
Midori ist nicht tot. Nur fort. Vielleicht denke ich deshalb häufiger an sie, als ich sollte. Ich stelle mir ihr Gesicht vor und erinnere mich an den Klang ihrer Stimme, die Berührung ihrer Hände, wie sich ihr Körper anfühlte. Ich habe kein gutes Gedächtnis für Düfte, aber ich weiß, ihren Duft würde ich sofort wiedererkennen, und ich wünschte, ich könnte ihn nur noch einmal einatmen, bevor ich sterbe. Ich vermisse die Gespräche mit ihr. Wir haben über Dinge gesprochen, über die ich noch nie mit irgendwem sonst
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