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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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gesprochen hatte. Ich vermisse die Art, wie sie mich küsste, zart, auf die Stirn, die Augenlider, wieder und wieder, wenn wir uns geliebt hatten.
    Noch immer sage ich ihren Namen, mein trauriges kleines Mantra. Nur wenn ich diese Silben ausspreche, kann ich von ihr etwas Sinnliches heraufbeschwören, und ich habe festgestellt, dass mir das manchmal gut tut, auch wenn es nur kurz ist. Wenn ich schon nicht mit ihr sprechen kann, kann ich zumindest zu ihr sprechen. So was in der Art. Als eine Art Trost.
    Nein, Midori ist nicht tot, aber ich verkrafte die Erinnerung an sie, indem ich mit meinen Gefühlen umgehe wie mit Trauer. Ihre Abwesenheit macht meine Welt farbloser und ärmer, aber das ist schließlich immer so, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. Ich wusste schon als Teenager, dass mein Leben reicher gewesen wäre, wenn mein Vater meine Kindheit überlebt hätte. Ich lernte, diese Tatsache als unveränderlich zu akzeptieren und schließlich auch als vielleicht doch nicht so bedeutsam. Midori war nicht tot, aber sie war eine Unmöglichkeit. Und für meine Trauer spielte der Unterschied letztlich keine Rolle.
    Ich rieb mir mit den Händen über die Augen, sehnte den Schlaf herbei, das kurzzeitige Vergessen, das der Schlaf beschert. Er wollte nicht kommen. Ich würde noch ein wenig warten müssen.
    Ich saß in der Dunkelheit dieses leeren Zimmers und meinte, die Präsenz all derer spüren zu können, die vor mir hier das Gleiche getan haben. Ihre Spuren sind jedenfalls sichtbar. Die Vertiefung in der Matratze, der ausgetretene Streifen des Teppichs zwischen Bad und Tür. Oder die Schweiß- oder Speichelflecken auf dem Kissen, wenn man unter den Bezug schaut; oder vielleicht Sperma oder Tränen; manchmal auch etwas Dunkleres, etwas wie Blut. Ich sitze da, die Dunkelheit dicht, aber auch grenzenlos um mich herum, und während meine Phantasie sich in dieser gesichtslosen Einöde verliert, wird mir klar, dass solche Spuren Zeichen sind, Überbleibsel von Leben und Augenblicken, die einmal waren und nicht mehr sind, wie Asche in einem kalten Kamin. Wie Graffiti, unbeabsichtigt hingekritzelt von anderen einsamen Reisenden, Schutt, hinterlassen von beliebigen Menschen auf ihrem Weg zu jenem gemeinsamen Ziel.
    Die Stunden verstrichen. Schließlich besiegte die wachsende Müdigkeit meine ruhelosen Grübeleien. Ich legte mich wieder ins Bett und schlief irgendwann ein.
     
    Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Zug zum Flughafen. Kurz bevor ich an Bord des 12-Uhr-10-Fluges ging, rief ich bei Crawley zu Hause an. In Washington war es erst 21 Uhr 45 am Vorabend.
    Dreimal Klingeln. Dann eine nasale Stimme. »Ja.« Es klang, als hätte ich ihn geweckt.
    »Oh, tut mir Leid«, sagte ich mit falscher Falsettstimme. »Ich glaube, ich hab mich verwählt.«
    »Himmelherrgott noch mal«, hörte ich ihn sagen. Er legte auf.
    Ich lächelte. Ich hätte mich sehr geärgert, wenn ich extra bis nach Washington geflogen wäre, nur um dann herauszufinden, dass er verreist ist.
    Ich gönnte mir einen Nonstop-Flug. Normalerweise ziehe ich eine weniger direkte Anreise vor, aber diesmal fand ich es wichtiger, Crawley zu erwischen, während ich wusste, wo er war, als die Risiken einer vorhersehbaren Reiseroute zu vermeiden. Und obwohl die Business-Class normalerweise mein Kompromiss zwischen Komfort und Anonymität ist, ermüdete mich die ständige Reiserei allmählich, und ich flog diesmal erster Klasse. Die Ostküste der Vereinigten Staaten war über zwölf Stunden entfernt, und ich wollte ausgeruht sein, wenn ich dort ankam.
    Ich hatte meinen Plan schon in groben Zügen ausgearbeitet. Jetzt musste ich mich nur noch mit den Details beschäftigen. Sobald das Flugzeug seine Reisehöhe erreicht hatte und die nervigen Sicherheits- und Bordprogrammankündigungen vorbei waren, schloss ich die Augen und machte im Geist eine Generalprobe der gesamten Operation: Annäherung, Zielerfassung, Einstieg, Warten, Aktion, Ausstieg, Flucht. In jeder Phase dieses mentalen Durchgangs fielen mir zusätzliche Dinge ein, die für die anstehende Aufgabe hilfreich oder notwendig waren, und meine mentale Checkliste wurde immer länger. Natürlich käme bei der Sichtung des Schauplatzes noch mehr hinzu, doch diese Ergänzungen wären nur im Rahmen eines bereits bestehenden, durchdachten Plans sinnvoll.
    Zwanzig Minuten später tauchte ich aus meinen Gedanken wieder auf und wusste, so gut es in Ermangelung weiterer Erkenntnisse möglich war, was ich brauchen und wie

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