Der Verrat
Metropolis aufs Land gepappt; die urzeitliche Unermesslichkeit des Amazonas, wo alles – Bäume, Seerosen und natürlich der Strom selbst – so gewaltig ist, dass der Reisende geradezu spürt, wie seine eigene menschliche Bedeutung schwindet und sich schließlich vollkommen auflöst; die barocke Kunst und Architektur der Region Minas Gerais, die wie eine widersprüchliche Entschuldigung von den Bergleuten zurückgelassen wurde, welche Jahrhunderte zuvor das Land wegen seiner Diamant- und Goldvorkommen ausgebeutet hatten.
Um Bahia und vor allem dessen Hauptstadt Salvador machte Yamada einen großen Bogen. Dort lebte eine Frau namens Naomi, halb Brasilianerin, halb Japanerin, die John Rain kannte und mit der er in Tokio eine Affäre gehabt hatte. Er hatte ihr etwas versprochen, als sie nach Brasilien fliehen musste. Yamada hätte sie gern besucht, doch gleichzeitig scheute er davor zurück. Er wusste nicht, ob er das Unvermeidliche vorwegnehmen oder einfach nur die Vorfreude auf das Wiedersehen verlängern wollte. Gelegentlich bedrückten Yamada solche Gedanken, aber die neue, nach den vielen Jahren im vertrauten Japan exotische Umgebung, die Reisen und das intensive Sprachstudium waren eine gute Ablenkung.
Yamada machte rasche Fortschritte in Portugiesisch, und nach sechs Monaten befand er, dass er so weit war, nach Rio umzuziehen. Genauer gesagt nach Barra da Tijuca, das man in Rio schlicht »Barra« nannte, ein besseres Wohnviertel mit einem rund neunzehn Kilometer langen Strand. Er fand eine Wohnung an der Kreuzung der Avenida Belisário Leite de Andrade Neto mit der Avenida General Guedes da Fontoura. Es war ein Gebäude mit Eingängen an beiden Straßen, das von lauter Wohnhäusern umgeben war und – wenn es nötig sein würde- zahlreiche Fluchtwege bot. Das würde es einer gegnerischen Seite praktisch unmöglich machen, ihn unauffällig zu überwachen oder aus dem Hinterhalt zu überfallen.
In Barra fing ich endlich an, mich in meiner Yamada-Identität wirklich wohl zu fühlen. Zum einen, weil ich zu dem Zeitpunkt schon so lange als Yamada gelebt hatte, zum anderen, weil es ohnehin schwierig ist, längere Zeit in Rio zu leben und sich dabei nicht wohl zu fühlen.
In meiner neuen Umgebung wurde ich ein japanischer Nisei, einer der zehntausend Japaner zweiter Generation, die in Brasilien leben, einer, der sich entschlossen hatte, von São Paulo nach Rio zu ziehen, um sich dort zur Ruhe zu setzen. Mein Portugiesisch war gut genug, um die Geschichte zu untermauern. Der Akzent war natürlich unüberhörbar, aber das ließ sich ohne weiteres damit erklären, dass ich in einer japanischen Familie aufgewachsen war und den Großteil meiner Kindheit in Japan verbracht hatte.
Fasziniert stellte ich fest, was für eine vage Vorstellung meine Nisei- Vettern von Japan hatten. Wenn einer von ihnen in den Spiegel blickte, sah er anscheinend nur einen Brasilianer. Ich hatte den Eindruck, falls sie überhaupt über Japan nachdachten, dann war es für sie nichts weiter als eine ferne Kultur, ein Ort, kaum wichtiger als irgendwelche anderen Länder, über die man etwas in Büchern liest oder im Fernsehen sieht. Etwas, das ihren Eltern oder Großeltern ungeheuer wichtig gewesen war, das für sie aber keine besondere Bedeutung mehr hatte. Ich merkte, dass mich das neidisch machte: der Gedanke, einfach zu vergessen, woher man kommt, und nur im Hier und Jetzt zu leben, ganz bei sich selbst. Ich liebte Brasilien dafür, dass es eine Kultur bot, die eine solche Möglichkeit förderte.
Und Barra bot diese Kultur in besonderem Maße. Meine Nisei- Geschichte war dünn, das wusste ich, aber eigentlich war das egal. Barra, der am schnellsten wachsende Stadtteil von Rio, mit einer Skyline, in die sich immer mehr Hochhäuser drängten, beschäftigte sich sehr viel mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit des Einzelnen. Es ist eine Gegend, wo man bereits nach einem Monat als alteingesessen gilt, und es fiel mir leicht, mich anzupassen.
Rio, Heimat einer sport- und fitnessverrückten Bevölkerung, hat zahllose Gesundheitsläden, und so konnte ich meiner Vorliebe für Proteinshakes und Acai-Fruchtsäfte hemmungslos frönen. Das in Verbindung mit anderen Ernährungszusätzen verkürzte meine Erholungszeiten und ermöglichte es mir, täglich ein Programm von fünfhundert Hindu-Kniebeugen, dreihundert Sit-ups auf der Schrägbank, dreihundert Hindu-Liegestützen und anderen Übungen zu absolvieren, das mich kräftig und geschmeidig
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