Der Verrat
hielt.
Morgens und abends verschaffte ich mir Abwechslung, indem ich im »Gracie Barra« trainierte, dem modernen Jiu-Jitsu-Mekka, wo sich die einfallsreiche Familie Gracie die Lehren japanischer Diplomaten zunutze gemacht und daraus ein ausgeklügeltes Bodenkampfsystem entwickelte hat. Ich trainierte häufig und hart, weil ich in dem Jahr in Osaka und danach in São Paulo keine Gelegenheit dazu gehabt hatte. Die jungen Schwarzgürtel der Schule waren von meinen Fähigkeiten beeindruckt, aber im Grunde waren sie bessere Bodenkämpfer als ich – wenngleich für einen eventuellen Einsatz im wirklichen Leben nicht so rücksichtslos –, und ich genoss die Möglichkeit, mein persönliches Arsenal aufzufrischen und zu erweitern.
An den Nachmittagen fuhr ich gern auf einem alten Zehn-Gang-Fahrrad zu den einsameren Stränden der Stadt – manchmal nach Grumari, manchmal zu noch abgelegeneren Abschnitten, die ich zu Fuß erreichte und wohin es nur die besessensten Surfer und vielleicht ein paar FKK-Sonnenanbeter verschlug. Nach einem Monat war meine Haut so dunkel wie bei einem echten Carioca, und mein Haar, braun wie das meiner Mutter (seit ich es nicht mehr schwarz färbe, um noch japanischer auszusehen), bekam helle Strähnen wie bei einem Surfer.
Manchmal schwamm ich hinaus auf eine der vorgelagerten Inseln. Dann saß ich auf den menschenleeren graugrünen Felsen und ließ beim rhythmischen Schlagen der Wellen gegen Stein die Gedanken schweifen. Ich dachte oft an Midori, die Jazzpianistin. Ich hatte sie kennen gelernt, nachdem ich ihren Vater getötet hatte, einen Mann, dessen posthume Wünsche ich dann später noch zu erfüllen versucht hatte. Was mir vielleicht die gemischten Gefühle der Tochter einbrachte, aber nicht ihre Vergebung. Ich erinnerte mich, wie sie in unserer letzten Nacht auf mir gesessen, sich vorgebeugt und genau in dem Augenblick, als sie kam, »ich hasse dich!« geflüstert hatte, weil die kurz zuvor erlangte Gewissheit, dass ich der Mörder ihres Vaters war, die Leidenschaft verurteilte, die sie andererseits nicht zügeln konnte. Ich stellte mir die alberne Frage, ob sie wohl je in einem Jazzclub in Rio auftreten würde. Und dann schaute ich zurück auf meine neue Stadt, und sie kam mir vor wie eine Insel, nicht viel anders als die, von der aus ich sie betrachtete: ein schöner Ort, keine Frage, aber dennoch ein Ort des Exils. Ein Ort der Einsamkeit.
Ich behielt die Wohnung in São Paulo. Um den Schein zu wahren, hielt ich mich von Zeit zu Zeit dort auf. Yamadas neues Exportunternehmen leitete ich aus der Ferne, überwiegend per E-Mail. Eine einfache, handelsübliche Software schaltete das Licht zu wechselnden Uhrzeiten ein und aus, so dass es aussah, als ob tatsächlich jemand dort wohnte und die Stromrechnung der eines normalen Einpersonenhaushalts entsprach. Für die Wasserrechnung erreichte ein unentwegt tropfender Wasserhahn das gleiche Ziel. Außerdem mietete ich mich immer mal wieder für kurze Zeit in unterschiedlichen Hotels oder Wohnungen irgendwo in Rio ein, um zusätzlich zu den sonstigen Hindernissen, die ich einem möglichen Verfolger bei der Suche nach mir in den Weg gelegt hatte, eine gewisse verwirrende Dynamik ins Spiel zu bringen.
Aber all diese Sicherheitsvorkehrungen kosteten Geld, und obwohl ich mir im Laufe der Jahre ein stattliches Sümmchen zusammengespart hatte, waren meine Mittel nicht unbegrenzt, und das, was ich hatte, war auf verschiedenen Offshore-Konten geparkt, die praktisch keine Zinsen abwarfen. Dividendenaktien, Pensionsfonds und Betriebsrenten passten nicht in meine Altersvorsorge. Ich redete mir ein, dass ich nach zwei oder drei Jahren, wenn meine Spur kalt geworden war und mögliche Verfolger allmählich ihre Motivation verloren, einige der kostspieligen Vorsichtsmaßnahmen einstellen könnte.
Die Zeit verging. Und so sehr ich Rio auch genoss, allmählich betrachtete ich es eher als Zwischenstation, als eine Atempause und nicht als Ende des langen Weges. Meine Tage dort waren irgendwie planlos, was durch mein engagiertes Jiu-Jitsu-Training zwar gemildert, aber nicht behoben wurde. Hin und wieder musste ich daran denken, was Tatsu einmal zu mir gesagt hatte: »Du kannst dich nicht zur Ruhe setzen.« Dieser Satz, den er ebenso eindringlich wie traurig ausgesprochen hatte und den ich zuerst als Drohung verstand, ehe ich begriff, dass er nur eine Vorhersage war, nahm in meiner Erinnerung nun eine andere Bedeutung an, die fast einer Prophezeiung
Weitere Kostenlose Bücher