Der Verrat
wieder auf den Weg zum Flughafen. Es war schon absurd, da hatte ich Salvador monatelang gemieden, nur um zu erfahren, dass Naomi und ich praktisch Nachbarn waren.
Am selben Abend vergewisserte ich mich zunächst, dass ich nicht verfolgt wurde, und nahm dann ein Taxi nach Lapa, einem der ältesten Stadtviertel, wo das »Scenarium« lag. In alter Gewohnheit stieg ich ein paar Häuserblocks früher aus und wartete ab, bis das Taxi davongefahren war, ehe ich mich auf die Bar zubewegte.
Ich ging durch malerische Straßen, deren Kopfsteinpflaster sich im Laufe der Jahrhunderte durch die unaufhörliche Bewegung der Erde darunter zu Tälern und Hügeln verzogen hatte. Einige Straßenlampen unterbrachen nur spärlich die vorherrschende Dunkelheit, und die wenigen Fußgänger wirkten verschwommen, unwirklich, wie Gespenster aus der kolonialen Vergangenheit der Stadt, Trugbilder, die verwirrt unter den verblassten Fassaden und bröckligen Balkonen hin und her schwebten, verlorene Seelen auf der Suche nach ihren einst stattlichen Häusern, die jetzt nur noch Denkmäler des Verfalls waren. Hier und da gab es Anzeichen neuen Lebens – eine ausgebesserte Balustrade, ein paar frisch verglaste Fenster –, und irgendwie machten diese kleinen Hoffnungszeichen die zerstörten Relikte, auf denen sie erblühten, zu einem seltsam lebendigen Vordergrund für die modernen Hochhäuser, die sich dahinter erhoben, Die verwahrlosten Tür- und Fensterhöhlen wirkten, als wollten sie sich nicht unterkriegen lassen, und lächelten schon jetzt bei der Aussicht auf den unaufhaltsamen Niedergang ihrer jüngeren, höheren Verwandten, die altern würden, ohne auch nur einen Hauch von Ehrerbietung zu wecken.
Ich bog in die Rua do Lavradio und erblickte gleich das »Scenarium«. Die Bar nahm alle drei Stockwerke zweier benachbarter Häuser in Anspruch. Beide Fassaden litten wie so viele ihrer Geschwister unter Altersschwäche und Verwahrlosung. Das Licht und die Musik, die aus dem Innern drangen, wirkten dagegen erstaunlich frisch und lebendig. Ich blieb einen Moment vor dem großen Eingang stehen und stellte überrascht fest, dass mein Herz raste. Ich dachte an die intensive Zeit, die ich mit Naomi in Tokio verbracht hatte, und daran, wie lange es her war, dass ich ihr versprochen hatte, mich zu melden.
Ich ging hinein und sah mich um. Instinktiv und aus alter Gewohnheit zuerst die Gefahrenpunkte: Sitzplätze mit Blick auf den Eingang, schlecht einsehbare Ecken, Positionen für einen Hinterhalt. Ich entdeckte nichts Problematisches.
Ich bewegte mich weiter vor. Der Innenraum war riesig und wie ein Lager für Hollywood-Requisiten dekoriert. Überall waren Antiquitäten und Kuriositäten: eiserne Registrierkassen, eine britische rote Telefonzelle, ein Wirrwarr von Sonnenschirmen, Büsten und Statuen, Regale mit farbigen Flaschen und Krügen. Selbst die Tische und Stühle waren ein buntes Sammelsurium. Wäre der Raum nicht so groß gewesen, hätte er voll gestopft gewirkt.
Die Decken waren hoch und aus nacktem Holz, die Wände aus Stein und Alabaster. In der Mitte des Raumes, etwa zehn Meter vom Eingang entfernt, öffnete sich die Decke und gab den Blick auf die beiden oberen Stockwerke frei. Unten spielte eine Drei-Mann-Combo »De Mais Ninguém« – Marisa Montes modernen Choro -Klassiker, ein Musikstil, den man in etwa als brasilianischen Jazz bezeichnen kann. Choro ist längst nicht so bekannt, in Wahrheit jedoch der ältere Jazz mit einem ganz eigenen typischen und mitunter melancholischen Sound. Das Publikum, das an den Holztischen und auf Sofas entlang den Wänden saß, sang inbrünstig mit.
Ich suchte mir einen Weg zu der Treppe im hinteren Teil, die mich in den ersten Stock brachte. Auch hier wimmelte es von Gästen und nicht weniger altertümlichem Schnickschnack, aber es ging nicht ganz so ausgelassen zu wie unten.
Der zweite Stock war noch stiller. Ich lehnte mich ein Weilchen an das Geländer, das um die offene Mitte des Bodens herum verlief, und blickte nach unten auf die Band, die Stammgäste an den Tischen vor der Bühne und die Kellner, die zwischen ihnen umherliefen. Ich spürte, wie mich eine eigentümliche Traurigkeit ergriff, vage und schwer zugleich, als betrachtete ich diese lebenslustige Szene nicht einfach nur von oben, sondern aus einer ungeheuer fernen und fremden Distanz.
Ein Kellner trat zu mir und fragte auf Portugiesisch, ob er mir etwas bringen dürfte.
»Ich suche Naomi«, erwiderte ich.
»Sie ist unten im
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