Der Verrat
dachte ich darüber nach, was Dox mir erzählt hatte. Die CIA hatte offenbar die Leichen vor Naomis Apartment in Tokio mit dem fast zeitgleichen Ableben von Yukiko in Verbindung gebracht, diesem eiskalten Miststück, das Harry verführt und dann aus dem Weg geräumt hatte, nachdem die Yakuza ihn dazu benutzt hatte, mich zu finden. Obwohl sie keine echten Beweise hatten, konnten sie sich denken, dass ich bei all diesen Todesfällen meine Hand mit im Spiel gehabt hatte. Sie wussten, dass Naomi und Yukiko im selben Club als Tänzerinnen gearbeitet hatten. Anhand dieser Punkte war es nicht mehr weit zu der Erkenntnis, dass es zwischen Naomi und mir eine Verbindung gab.
Ich meldete mich über die Sprechanlage am Haupteingang. Naomi wunderte sich, dass ich schon wieder zurück war, aber sie öffnete mir die Tür. Ich nahm die Treppe. Sie wartete schon, hielt die Tür für mich auf.
Ich ging hinein. Es roch nach frischem Kaffee. Naomis Haar hing nass über die Schultern eines weißen Frotteebademantels – sie war anscheinend gerade aufgestanden und hatte geduscht.
»Heute Morgen ist mir jemand gefolgt«, eröffnete ich ihr.
»Dir gefolgt?«, fragte sie.
»Ja. Und zwar nicht mit guten Absichten.«
»Ein Straßenräuber?«
»Nein, kein Straßenräuber. Ein Profi. Jemand, der genau gewusst hat, wohin er gehen musste.«
Sie sah mich an, und ihr Gesichtsausdruck war eher ängstlich als verwundert.
»Sag mir, was los ist, Naomi.«
Eine lange Pause trat ein, dann sagte sie: »Ich hab ihnen nichts erzählt.«
»Wem?«
»Ich weiß es nicht genau. Sie haben so ungefähr einmal im Monat angerufen. Es fing an, als ich aus Tokio nach Brasilien zurückgekommen bin. Jemand ist im ›Scenarium‹ aufgetaucht und hat angefangen, mich nach dir auszufragen.«
»Beschreib ihn.«
»Er hat sich als Kanematsu vorgestellt. Amerikaner, aber japanischer Abstammung. Er hatte gegeltes Haar und trug eine Nickelbrille. Zirka Dreißig, schätze ich, wirkte aber jünger. Er hat gesagt, dass er für die US-Regierung arbeitet und ein Freund von dir ist, aber mehr wollte er nicht verraten.«
Schon wieder Kanezaki, der unter einem Pseudonym arbeitete. »Was hast du ihm erzählt?«, fragte ich.
Sie sah mich an, und ihre Miene war eine seltsame Mischung aus Verletzlichkeit und Trotz. »Ich hab ihm gesagt, dass ich dich kenne, ja, aber dass ich nicht wüsste, wo du bist oder wie man dich finden könnte.«
Wenn das stimmte, war es clever. Wenn sie abgestritten hätte, dass sie mich kannte, hätten sie gleich gewusst, dass sie log. Sie wären davon ausgegangen, dass auch alles andere gelogen war, und hätten sie vielleicht unter Druck zu setzen versucht.
»Und dann?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich kriege ungefähr einmal im Monat einen Anruf. Immer derselbe Typ. Und ich erzähle ihm immer dasselbe.«
Ich nickte nachdenklich. »Was haben Sie dir geboten?«, fragte ich.
Sie senkte den Blick und sah mich dann wieder an. »Fünfundzwanzigtausend US-Dollar.«
»Nur dafür, dass du sie mit mir in Kontakt bringst?«
Sie nickte.
»Tja, so viel Wertschätzung tut gut«, sagte ich. »Hat der Mann, der mit dir gesprochen hat, gesagt, wie du ihn erreichen kannst?«
Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Ich hörte, wie eine Schublade aufgezogen und wieder geschlossen wurde. Sie kam zurück und reichte mir wortlos eine Visitenkarte. Darauf waren eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer. Letzere hatte die Vorwahl von Tokio. Es war dieselbe Nummer, die Dox mir gegeben hatte.
»Fünfundzwanzigtausend sind viel Geld«, sagte ich und spielte mit der Karte zwischen meinen Fingern.
Sie starrte mich an.
»Warst du nie versucht, es zu nehmen?«, fragte ich.
Ihre Augen wurden schmal. »Nein.«
»Auch nicht, obwohl du so viel in das Restaurant investiert hast? Da wäre die Summe doch sehr hilfreich gewesen.«
»Denkst du, ich würde dich aufgeben?«, fragte sie, und ihre Stimme hob sich. »Für Geld?«
Ich zuckte die Achseln. »Du hast mir nichts von alledem erzählt. Bis ich dich darauf angesprochen habe.«
»Ich hatte Angst, es dir zu sagen.«
»Und du hast die Karte behalten. Als Andenken? Als kleines Souvenir?«
Eine Pause trat ein. Sie sagte: »Dann hau doch ab.«
Ich sagte mir, dass das so kommen musste.
Ich sagte mir, dass es nicht weiter schlimm war, dass ich nicht enttäuscht war, dass es besser so war.
Ich fragte mich vage, ob all das Teil einer kosmischen Bestrafung wegen Crazy Jake war, meines Blutsbruders in Vietnam, den ich
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