Der Verrat
ihn gar nicht sehen. Ich war rasch gegangen und wurde auch jetzt nicht langsamer. Mein Herz hämmerte noch immer, und ich spürte einen frischen Adrenalinstoß heranrauschen wie Donnergrollen.
Als ich etwa einen Meter von ihm entfernt und außerhalb seines Gesichtsfeldes war, trat ich plötzlich dicht an ihn ran, ging in die Hocke und schlang beide Arme fest oberhalb der Knie um seine Beine. Ich spürte, wie sein Körper stocksteif wurde, hörte ihn nach Luft schnappen. In meiner adrenalinbedingten Zeitlupenwahrnehmung registrierte ich jedes Detail: die Höhe des Geländers, die Rostflecken auf dem Metall, die schwarzen Kaugummiflecken, die fest in die Zementfliesen getreten waren, von denen sich seine Füße jetzt fatalerweise lösten.
Ich schnellte hoch und katapultierte ihn in die Luft über das Geländer. Er wedelte mit den Armen und schrie gellend auf, als er den Bodenkontakt verlor, ein hoher, animalischer Laut reiner animalischer Panik, und ich spürte den Krampf des Entsetzens durch seinen Körper rasen, als ich ihn losließ. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund. Seine Arme und Beine ruderten irre, nutzlos, in der Luft. Dann war er weg, nach unten aus meinem Blickfeld verschwunden. Der Schrei dauerte an und wurde eine Sekunde danach von einem lauten, dumpfen Aufprall sechs Meter tiefer abgeschnitten. Reifenquietschen. Noch ein Aufprall. Knirschende Geräusche. Erneutes Reifenquietschen. Dann Stille.
Ich ging weiter auf das Kaufhaus New Yaohan zu, bis der Unfallort in Sicht kam. Der Verkehr staute sich, und einige Leute standen um etwas herum, das auf dem Boden lag. Also wirklich, diese Geländer müssten höher sein. Da kann so viel passieren.
Zwei Menschen, chinesische Zivilisten, kamen auf mich zu. Verdammt. Ich wandte den Blick ab und änderte meine Haltung, ließ die Schultern hängen, verfiel in einen wiegenderen Gang, bot ihnen eine Figur an, die sie in Erinnerung behalten konnten, eine Figur, die nicht ich war. Ich spürte, dass sie mich genau ansahen, als ich sie passierte. Vielleicht hatten sie gesehen, was passiert war. Falls ja, waren sie noch nicht bereit, ihren Augen zu glauben, und suchten jetzt nach anderen Erklärungen für das, was ihre Sinne ihnen vermittelt hatten, ein Phänomen, das Psychologen als »kognitive Dissonanz« und »Realitätsprüfung« bezeichnen.
Ich erwog kurz, sofort zum Terminal zurückzugehen und wieder nach Hongkong zu fahren. Zwei Leichen, zwei potentielle Zeugen … die Polizei könnte ziemlich aufgebracht sein. Aber dann beschloss ich doch, das Risiko einzugehen. Die Toten waren Ausländer und würden daher bei den Einheimischen wahrscheinlich weniger Besorgnis erregen. Außerdem hatte auch Macau schon Bandenkriege erlebt, Morde, die die Behörden herunterspielen wollten, weil sie fürchteten, der lukrative Zustrom von Glücksspieltouristen könnte darunter leiden. Wenn sie die Chance hatten, diese »Todesfälle« als Unfälle einzustufen oder die negativen Nachwirkungen irgendwie anders zu reduzieren, dann würden sie es vermutlich tun.
Ich ging weiter. Von hier aus konnte ich viele Wege einschlagen, und falls mir noch andere folgten, würden sie mir ziemlich dicht auf den Fersen bleiben müssen. Aber ich sah niemanden. Ich würde mich weiter nach hinten absichern und die entsprechenden Umwege machen, um ganz sicher zu gehen, aber für einige kostbare Minuten war ich einigermaßen zuversichtlich, dass ich nicht verfolgt wurde. Wenn es noch jemanden gab, den ich überrumpeln könnte, dann wahrscheinlich im Hotel.
Mit gesenktem Kopf und in flottem, aber nicht auffälligem Tempo ging ich durch das New Yaohan, nahm den Fußgängerweg hinunter zur Straße und erreichte das Mandarin Oriental nach weiteren zehn Minuten. Als ich am Hintereingang war, summte das Handy. Ich warf einen Blick auf das Display und erkannte eine der Nummern wieder, die ich in der Anrufliste gesehen hatte. Verdammt, fünf erledigt, aber noch immer war mindestens einer übrig und meldete sich, wollte Informationen oder Anweisungen bekommen oder einfach nur eine vertraute Stimme in einem fremden Land hören.
Ich ging hinein. Falls sie noch jemanden auf mich angesetzt hatten, dann hier, an dem einzigen Ort, wo sie ernsthaft damit rechnen konnten, dass ich mich blicken ließ. Vielleicht noch ein Araber, der in der weitläufigen Lobby saß, über Handy telefonierte und darauf wartete, dass ein Freund oder Bekannter kam.
Ich nahm den Hintereingang, checkte die Gefahrenpunkte, an denen ich vorbei
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