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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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wahrscheinlichste Erklärung auch die einfachste: Dox hatte die Wahrheit gesagt.
    So, und was nun? Das Nächstliegende wäre, mir Crawley vorzunehmen. Ihm ein paar Fragen zu stellen. Meinen Charme spielen zu lassen.
    Aber noch nicht. Zuerst musste ich herausfinden, wie das alles mit Belghazi zusammenhing. Eine halb-arabische Zielperson, ein arabisches Killerteam, ein CIA-Officer, der meine Ermordung in Auftrag geben will? Selbst jemandem wie mir, der sich im Laufe der Jahre etliche Feinde gemacht hatte, fiel es bei dem Timing schwer, an puren Zufall zu glauben. Ich brauchte mehr Informationen, bevor ich aktiv wurde, und ich glaubte, dass Kanezaki mir da vielleicht behilflich sein konnte.

8
    ICH RIEF TATSU VON EINEM MÜNZTELEFON AUS AN.
    »Nanda?« ,hörte ich ihn sagen, seine typische knappe Begrüßung. Was ist los?
    »Hisashiburi« ,sagte ich, damit er meine Stimme erkannte. Es ist lange her.
    Eine kurze Pause trat ein. Dann sagte er auf Japanisch: »Ich hab an dich gedacht.«
    Aus Tatsus Mund klang das schon fast sentimental. »Du wirst doch nicht etwa gefühlsduselig, oder?«, fragte ich.
    Er lachte. »Meine Töchter sagen das jedenfalls.«
    »Na ja, die müssten es eigentlich wissen.«
    »Das fürchte ich auch. Und du? Geht es dir gut?«
    »Einigermaßen. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
    »Ja?«
    »Ich schicke dir eine Nachricht«, sagte ich in Anspielung auf unser Bulletin Board.
    Wieder kam eine Pause, dann sagte er: »Sehen wir uns?«
    »Ich hoffe es.«
    Erneute Pause. »Jaa« ,sagte er. Also dann.
    »Pass auf dich auf, alter Freund.«
    »Otagai ni na« ,sagte er. Du auch.
    Ich schickte ihm die Nachricht von einem Internetcafé aus. Dann machte ich mich auf den Weg zum International Airport von Hongkong. Ich erwischte noch einen Flug nach Seoul und von dort eine Anschlussmaschine zum Narita International in Tokio. Und so kam es, dass ich zu meiner eigenen Überraschung noch am selben Abend wieder in Japan war.
    Vom Flughafen nahm ich die Narita Expressbahn zum Hauptbahnhof, und als ich ins Freie trat, stellte ich fest, dass meine ehemalige Heimatstadt sich mal wieder unter typisch regnerischem und kaltem, spätherbstlichen Wetter duckte. Ich blieb unter dem Vordach stehen und betrachtete das Bild, das sich mir bot. Vor mir hüpften Wellen aus schwarzen Schirmen. Nasses Laub klebte auf der Straße und wurde von den Reifen gedankenloser Autos und den Schuhsohlen gefühlloser Passanten zermatscht, von dem Gewicht dieser ganzen, gleichgültigen Metropolis.
    Ich stand lange Zeit da und schaute bloß. Dann drehte ich mich um und verschwand wieder im Bahnhof, niedergedrückt von einem Gefühl der Unsichtbarkeit, die ganz anders war als die, um die ich mich stets so eifrig bemüht hatte, als ich noch hier lebte.
    Für einen Wucherpreis von tausend Yen kaufte ich mir einen billigen Schirm und fuhr dann mit der Yamanote-Linie nach Nishi-Nippori, wo ich in einem unscheinbaren Hotel eincheckte, wie es sie in diesem Teil von Shitamachi, der von Narben gezeichneten und doch ungebeugten Unterstadt des alten Edo, zuhauf gab. Als ich das Licht ausschaltete, hätte ich praktisch überall sein können. Und doch spürte ich mit jeder Faser, dass ich in Japan war, in Tokio.
    Ich schlief unruhig, und als ich aufwachte, war wieder ein grauer, verregneter Tag angebrochen. Ich machte mich auf den Weg nach Sengoku, wo ich so viele Jahre gelebt hatte, ehe Holtzer mich aufspürte und ich mich in anonymere Gegenden begeben musste.
    Als ich aus der Sengoku-Station kam, stellte ich fest, dass das Gesicht des Stadtteils, an den ich mich gern erinnerte, förmlich ausradiert worden war. Stattdessen gab es jetzt an einer Ecke einen McDonald’s und an der nächsten einen Denny’s. Ich sah eine Drugstore-Kette, eine Lebensmittelkette und weitere Ketten, die sicherlich alle eine größere Auswahl und Vielfalt bieten sollten. Ein angenehmeres, effizienteres Einkaufserlebnis. Die unnachgiebigen Mühlen des städtischen Fortschritts mahlten unverdrossen weiter, sie waren der gleichförmige Ausdruck eines immer älter werdenden kollektiven Unterbewussten.
    Ich öffnete meinen Schirm, überquerte die Straße und ging spazieren, bis ich an meiner alten Wohnung vorbeikam. Und hier, ein Stück von der neuerdings grellbunten Bahnhofsfassade entfernt, stellte ich erstaunt fest, dass noch fast alles so war, wie ich es in Erinnerung hatte: die Gärten mit ihren gepflegten Pflanzen, die Steinmauern mit weichen Moosmustern, die schindelgedeckten

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