Der Verrat
Schluck Kaffee. »Wissen Sie, ich hab mal einen Artikel über ungeklärte Autounfälle gelesen. Offenbar wird ein erheblicher Prozentsatz tödlicher Unfälle mit dem Vermerk ›Ursache unbekannt‹ zu den Akten gelegt. Am helllichten Tag überschlägt sich einer mit seinem Auto und stirbt. Man hat herausgefunden, dass in solchen Fällen vielfach die Fenster geöffnet waren. Deshalb lautet eine Theorie, dass der Typ munter dahin fährt, Radio hört und den schönen Tag genießt, und auf einmal fliegt ihm eine Biene ins Auto. Der Mann schlägt in Panik nach der Biene, wird abgelenkt, und rums! Die Biene fliegt weg. ›Ursache unbekannt‹. Ich glaube, mit so was haben wir’s hier zu tun.«
»Und für wen arbeitet sie dann?«
»Ich weiß nicht. Es gibt viele Möglichkeiten, weil diese Typen viele Feinde haben. Könnte ein geschäftlicher Konkurrent sein, einer, der die Waffenlieferungen oder die Finanztransaktionen an sich reißen will, um besser absahnen zu können. Könnten die Franzosen sein – die haben ihre Finger überall drin, und man weiß nie so richtig, was die eigentlich treiben oder wieso. Aber ich würde vermuten, es ist eine Operation der Israelis.«
Ich nickte, von seiner Hellsichtigkeit sowohl beeindruckt als auch beunruhigt. Es war eine Sache, wenn ich einen bestimmten Verdacht hatte, wer Delilah war und für wen sie arbeitete. Die Informationen konnte ich nutzen, wie ich wollte, ich konnte die Situation kontrollieren. Aber es war etwas völlig anderes, wenn die CIA anfing, sich dafür zu interessieren. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Weil die Israelis das durchgängigste und unmittelbarste Motiv haben, die Infrastruktur der Extremisten zu stören, und weil sie das unentwegt versuchen, wie und wo sie nur können. Weil israelische Killerkommandos gern mit Kaliber zweiundzwanzig arbeiten – kleine Waffen, gut zu verstecken und relativ leise. Die Teams, die die Septemberattentäter von München liquidiert haben, benutzten Kaliber zweiundzwanzig. Und weil es ein so guter Schütze ist. Das Gleiche gilt für die Frau. Die Typen, die sie anmacht und dann abserviert, sind keine Leichtgewichte. Deshalb muss sie schon verdammt gut sein, wenn sie das tut, was ich vermute. Mossad-Qualität.«
»Sie glauben, sie ist beim Mossad?«
Er nickte. »Ich glaube, sie gehört zu der Sammlungsabteilung. Die Sammlungsabteilung ist für die Zieleinschätzung und -beurteilung zuständig, nachdem ein Komitee die Liquidierung beschlossen hat. Spezialisten, die ›Kidons‹ oder ›Bayonets‹ heißen und zur Spezialeinheit der Metsada gehören, sind dann die eigentlichen Killer. Deshalb kommt mir diese Arbeitsteilung, die wir hier sehen, irgendwie israelisch vor. Haben Sie sie wiedergesehen?«
»Nein«, sagte ich reflexartig.
Er stutzte einen Moment und sagte dann: »Ich hatte schon fast gehofft, Sie hätten. Nicht auszuschließen, dass sie hinter den Angriffen auf Sie in Hongkong steckt.«
Seltsamerweise kam mir die Möglichkeit weniger wahrscheinlich vor, wenn Kanezaki sie aussprach, als wenn ich selbst mich damit auseinander setzte.
»Das waren Araber«, sagte ich.
»Der Mossad setzt dauernd arabische Splittergruppen ein. Operationen unter falscher Flagge. Aber egal. Ich weiß nicht mit Sicherheit, dass sie Israelin ist. Wie gesagt, sie könnte auch für eine Splittergruppe arbeiten. Oder sie ist Freischaffende.« Er lächelte. »Sie wissen ja, diese Freien arbeiten praktisch für jeden.«
»Sogar für die CIA«, sagte ich, ohne das Lächeln zu erwidern.
»Stimmt. Aber zu uns gehört sie nicht. Das wüsste ich.«
»Sie sollten sich keine Illusionen darüber machen zu wissen, was Ihre Organisation so plant. Auf euch würde das Motto passen: ›Keine Sorge, unsere rechte Hand hat keine Ahnung, was die linke tut.‹«
Er schmunzelte. »Manchmal stimmt das sogar.«
Wi schwiegen einen Moment.
Er sollte nicht denken, dass ich Delilah schützte. Er sollte nicht denken, dass ich irgendeine persönliche Motivation haben könnte. Wenn man der CIA emotionale Informationen liefert, ist das meiner Erfahrung nach ungefähr so, als würde man einem Sadisten ein glühendes Eisen überreichen. Er sollte lieber glauben, meine Versuche, die Bedeutung der Frau herunterzuspielen, hätten andere Gründe.
»Wie dem auch sei, ich glaube nicht, dass die Frau so wichtig ist, wie ich zuerst dachte«, sagte ich. »Ich hab sie nur einmal gesehen. Wahrscheinlich ist sie nicht die Frau in Ihren Akten. Ich
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