Der Verrat
Häuser aus altem Holz, die würdevoll und beherzt neben ihren jüngeren Vettern aus Stein und Metall standen. Noch immer lagen Kinderfahrräder vor Haustüren, noch immer tropften Regenschirme in den Ständern vor kleinen Geschäften. Die Peripherie hatte sich gewandelt, das sah ich, aber der Kern war gleich geblieben.
Ich lachte. Der Anblick vorhin vor dem Bahnhof hatte mich enttäuscht, aber er hatte mir andererseits auch ein gewisses Gefühl der Überlegenheit gegeben. Das, was ich hinterher vorfand, war zwar eine Erleichterung, brachte aber auch ein tiefes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit mit sich. Denn erst jetzt stellte ich fest, dass das Leben in Sengoku einfach … weitergegangen war. Das Viertel war durch mein Verschwinden ebenso wenig berührt, wie es sich zuvor meiner Anwesenheit bewusst war. Während meiner Zeit hier, so gestand ich mir ein, hatte ich mich in den Wahn verstiegen, dass ich vielleicht hierher gehörte, dass es irgendwie nicht völlig egal war, ob ich hier lebte oder nicht. Jetzt wurde mir klar, dass diese Gedanken ganz sicher ein Irrtum gewesen waren.
Ich dachte an Midori, daran, was sie mir einmal von der mono no aware erzählt hatte, von der »Traurigkeit, Mensch zu sein«, wie sie es nannte, und eine ungeschützte Sekunde lang sehnte ich mich danach, mit ihr sprechen zu können.
Ich sah mich ein letztes Mal um, versuchte, mich an das Leben zu erinnern, das ich einmal hier hatte. Gewiss, da war ein Gefühl, das blieb, etwas Ungreifbares, aber nichts, was ich wirklich hätte fassen können. Der Kern des Viertels war gleich geblieben, ja, und doch war es jetzt mit dem unfairen Gewicht meiner Erinnerungen belastet, und alles schien schmerzlich verändert. Ich gehörte nicht mehr hierher, und ich kam mir vor wie ein Geist, etwas Unnatürliches, das gut daran getan hatte zu verschwinden und dessen Rückkehr töricht war.
Ich ging zurück zum Bahnhof und rief Kanezaki von einer Telefonzelle aus an.
»Ich wollte Ihnen gerade was raufladen«, sagte er.
»Gut. Wo sind Sie jetzt?«
»In Tokio.«
»Wo in Tokio?«
Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sind Sie hier?«
»Ja. Wo sind Sie jetzt?«
»In der Botschaft.«
»Gut. Seien Sie in dreißig Minuten vor der Sengoku-Station. Steigen Sie in Uchisaiwaicho in die Mita-Linie.«
»Ich weiß, wie ich da hinkomme.«
Ich lächelte. »Gehen Sie auf der Westseite der Hakusan-dori Richtung Sugamo. Wenn Sie an der Sugamo-Station sind, drehen Sie sich um und gehen wieder zurück. Das wiederholen Sie so lange wie nötig.«
»Alles klar.«
»Kommen Sie allein. Halten Sie sich an die Regeln.« Mögliche Strafen zu erwähnen konnte ich mir sparen.
Ich wartete auf der Hakusan-dori, nordöstlich der Sengoku-Station. Ich hielt den Regenschirm tief gesenkt, um mein Gesicht zu verbergen, bereit, mich sofort in das Labyrinth aus Gässchen und Straßen hinter mir zu flüchten, falls irgendwas schief lief und Kanezaki gegen die Regeln verstieß.
Fünfundzwanzig Minuten später trat er auf den Bürgersteig und kam in meine Richtung. Er schien allein zu sein. Als er auf gleicher Höhe mit mir war, rief ich ihn. Er schaute herüber. Ich signalisierte ihm, dass er die Straße überqueren sollte, und achtete darauf, ob auch keiner hinter ihm genau das Gleiche tat.
Die nächste halbe Stunde lang hielt ich uns munter auf Trab, zu Fuß, mit U-Bahn und Taxi. Harrys Senderdetektor blieb ruhig. Ich beendete die Gegenaufklärung in Takadanobaba, dem relativ ruhigen Nordosten der Stadt, in einem Lokal, das sich Ben’s Café nannte.
Wir gingen an den efeuumrankten Spalieren und dem dezenten Schild draußen vorbei. Kanezaki atmete tief durch, als wir eintraten.
»Verdammt, das riecht aber gut«, sagte er.
Ich nickte. Es gibt nur wenige Gerüche, die ich so wohltuend finde wie das geballte Aroma aus vielen Jahren ehrfürchtiger Kaffeezubereitung.
»Wissen Sie, falls mal jemand Ihre Sucht nach Coffeeshops und Cafés spitzkriegt«, sagte er, als wir an einem der kleinen Holztische Platz nahmen, »wird er Sie über kurz oder lang aufspüren.«
»Kann sein. Vorausgesetzt, er hat genug Leute, um die rund tausend Cafés überwachen zu lassen, die mir in Tokio gefallen.«
In Wahrheit war das Ben’s eines meiner Lieblingscafés, und ich freute mich, wieder hier zu sein. Es hat das Flair eines Studentencafés, was es in gewisser Weise auch ist, da die Waseda University und einige andere kleinere Colleges ganz in der Nähe liegen. Die Atmosphäre ist entspannt, und
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