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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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oder irgendwen aus einer Meile Entfernung mit Granaten einzudecken, aber wie ein Gespenst durch den Dschungel zu schleichen? Die Spur deines Feindes aufzunehmen, als wäre er bloß ein Reh oder sonst was? Sich an ihn ranschleichen oder ihm in einem Versteck auflauern und ihm dann mit zen-mäßiger Ruhe das Hirn wegpusten? Aber du solltest mal hören, wie die andern dich um Hilfe anbetteln, wenn sie ein Problem haben, dass nur ein Scharfschütze lösen kann. Dann bist du plötzlich jedermanns Liebling. Natürlich nur, bis das Problem gelöst ist. Na, jedenfalls, die Arbeit der Scharfschützen macht den Heuchlern Angst.«
    Ich nickte. »Ich weiß.«
    Er nickte zurück. »Ich weiß, dass du das weißt. Ehrlich gesagt, Partner, in vielerlei Hinsicht verhältst du dich eher wie ein Scharfschütze als ich. Ich weiß nicht, was für ein Typ du bist, aber du hast die nötige Ruhe. Und du weißt, wie es ist, Menschen zu jagen. Du hast da keine Probleme mit.«
    Ein kurzes Schweigen trat ein, und ich dachte über seine Worte nach. Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses spezielle »Lob« zu hören bekam, aber ich wollte Dox’ Geschichte hören und ihm nicht meine erzählen.
    Nach einem Moment sagte er: »Jedenfalls, die regulären Marines hielten mich für einen Soziopathen, und die Scharfschützen hielten mich für irre. Dass meine Leistungen besser waren als ihre, machte sie bloß sauer. Besonders einen bestimmten Ausbilder. Es gehört zur Ausbildung, die Scharfschützen unter Stress zu setzen. Wenn du schießen willst, brüllen dich die Ausbilder an, oder sie spielen extra die Musik, die du nicht ausstehen kannst, in voller Lautstärke, oder sie versuchen sonst irgendwie, dich fertig zu machen. Alles gut und schön, das härtet ab, und du musst lernen, mit Stress umzugehen, sonst versagst du im Einsatz. Aber dieser Typ hörte einfach nicht auf. Schließlich fing er an, ›versehentlich‹ gegen mein Gewehr zu stoßen, während er mich anbrüllte, und natürlich reicht der kleinste Stoß, um daneben zu schießen. Also beim ersten Mal hab ich noch nichts gesagt. Beim zweiten Mal bin ich aufgestanden und hab ihn mir vorgeknöpft. Und genau darauf hatte der Arsch nur gewartet. Er hat in meine Beurteilung geschrieben, ich hätte Probleme, meine ›Aggressionen zu kontrollieren‹ und sei seiner Meinung nach als Scharfschütze ›charakterlich ungeeignet‹. Als ich dahinterkam, hab ich ihn ordentlich vertrimmt.«
    Ich nickte und dachte daran, wie der junge übereifrige CIA-Officer, der Holtzer in Vietnam gewesen war, mit mir ein ähnliches Spielchen getrieben und eine ähnliche dumme, aber auch befriedigende Reaktion provoziert hatte. Holtzer war später Leiter der CIA-Dienststelle in Tokio geworden und hegte seinen Groll gegen mich bis ins Grab, in das ich ihn schließlich beförderte.
    »Kriegsgericht?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, es war allgemein bekannt, was der Kerl für ein Arschloch war, und irgendeiner hat ein paar Beziehungen spielen lassen und mich davor bewahrt. Aber die Beurteilung blieb in meiner Akte, und von da an war meine Karriere praktisch schon am Ende. Zumindest bis die Russen plötzlich Appetit auf Afghanistan kriegten. Da brauchte Uncle Sam auf einmal so schwarze Schafe wie mich, und alles war vergeben und vergessen.«
    »Ich hatte da drüben immer das Gefühl, dass du irgendwas beweisen musstest«, sagte ich.
    Er lächelte. »Na ja, das stimmt. Weißt du, ich hatte etliche Abschüsse in Afghanistan – drei davon auf über tausend Meter. Nicht schlecht für jemanden, der ›charakterlich ungeeignet‹, ist, würde ich sagen. Carlos Hathcock wäre stolz drauf gewesen.«
    Carlos Hathcock war der erfolgreichste Scharfschütze aller Zeiten. Er hatte in Vietnam dreiundneunzig bestätigte Abschüsse, einer davon ein Zweitausendfünfhundert-Meter-Schuss mit einer 50 Kaliber-Waffe, und rund dreimal so viele unbestätigte.
    »Ich hab Hathcock übrigens mal kennen gelernt«, sagte ich und dachte daran, was Dox vorhin über meine Scharfschützenruhe gesagt hatte. »In Vietnam. Ehe er so bekannt wurde.«
    »Das gibt’s nicht! Du kennst den Typ?«
    Ich nickte.
    »Na und, was hat er gesagt?«
    Ich zuckte die Achseln. »Nicht viel. Er saß in einer Bar in Saigon allein an einem Tisch. Der einzige noch freie Platz war bei ihm am Tisch, und ich hab mich dazu gesetzt. Wir haben uns nur vorgestellt, das war alles. Ich hab ein Bier getrunken und bin gegangen. Ich glaube, wir haben kaum mehr als zwei

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