Der Verrat
kannten, besonders niedergedrückt sein. Polly war sicher stoisch, distanziert und effektiv wie immer. Rudolph würde sein Büro nur für Besprechungen mit den hohen Tieren aus den oberen Etagen verlassen.
Der einzige traurige Aspekt dieses Angriffs gegen vierhundert Anwälte war die Tatsache, dass fast alle nicht nur unschuldig waren, sondern auch keine Ahnung hatten, worum es überhaupt ging. Niemand interessierte sich dafür, was in der Immobilienabteilung geschah, und nur wenige kannten Braden Chance. Nach sieben Jahren hatte ich ihn kennengelernt, und das auch nur, weil ich ihn aufgesucht hatte. Die Unschuldigen taten mir leid - die Altgedienten, die eine großartige Kanzlei aufgebaut und uns alles beigebracht hatten, meine Altersgenossen, die die Tradition hervorragender Leistungen fortsetzen würden, und die Neulinge, die zu ihrer Bestürzung erfuhren, dass ihr verehrter oberster Chef durch gesetzwidrige Machenschaften irgendwie für den Tod von Menschen verantwortlich war.
Für Braden Chance, Arthur Jacobs und Donald Rafter empfand ich allerdings kein Mitleid. Sie hatten mir an die Kehle gehen wollen. Nun sollten sie schwitzen.
Megan machte eine Pause von der anstrengenden Arbeit, Ordnung in einem Haus zu halten, das achtzig obdachlose Frauen beherbergte, und gemeinsam fuhren wir eine Weile durch Northwest. Sie wusste nicht, wo Ruby lebte, und wir rechneten eigentlich auch nicht damit, sie zu finden. Es lieferte uns jedoch einen guten Grund, ein paar Minuten miteinander zu verbringen.
»Dass eine obdachlose Frau untertaucht, ist nichts Ungewöhnliches«, versicherte sie mir. »Obdachlose sind einfach unberechenbar, besonders die Süchtigen.«
»Kennen Sie das?«
»Ich habe schon so einiges erlebt. Man lernt, damit zurechtzukommen. Wenn eine von den Drogen loskommt und einen Job und eine Wohnung findet, spricht man ein kleines Dankgebet. Aber man gerät nicht aus dem Häuschen, denn irgendwann kommt die nächste Ruby und bricht einem das Herz. Es gibt mehr Täler als Berge.«
»Wie schaffen Sie es, keine Depressionen zu bekommen?«
»Man schöpft Kraft aus seinen Klienten. Es sind bemerkenswerte Menschen. Die meisten hatten seit ihrer Geburt keine Chance, und trotzdem überleben sie. Sie stolpern und fallen, aber sie stehen wieder auf und machen weiter.«
Drei Blocks vom Rechtsberatungsbüro kamen wir an einer Reparaturwerkstatt vorbei, hinter der ein paar demolierte Autos vor sich hin rosteten. Ein großer, bissig wirkender Kettenhund bewachte den Eingang. Ich hatte nicht die Absicht, zwischen den alten Wagen herumzustöbern, und der Hund beschloss, jemand anderen zum Weitergehen aufzufordern. Wir nahmen an, dass Ruby irgendwo zwischen dem Büro an der 14th Street und Naomi an der 10th, nicht weit von der L Street, lebte, also in einem Gebiet zwischen Logan Circle und Mount Vernon Square.
»Aber man weiß es nie genau«, sagte Megan. »Ich staune immer wieder, wie weit diese Leute herumkommen. Sie haben jede Menge Zeit, und manche gehen kilometerweit zu Fuß.«
Wir fuhren langsam, beobachteten die Leute auf der Straße und musterten jeden Bettler. Wir gingen durch Parks, suchten nach Obdachlosen, warfen Münzen in ihre Becher und hofften, jemanden zu sehen, den wir kannten, doch wir hatten kein Glück.
Ich setzte Megan bei Naomi ab und versprach, sie am Nachmittag anzurufen. Ruby war eine wunderbare Ausrede, in Verbindung zu bleiben.
Der Abgeordnete stammte aus Indiana, und dies war seine fünfte Legislaturperiode. Er war Republikaner, hieß Burkholder und hatte eine Wohnung in Virginia, joggte aber am frühen Abend gern in der Umgebung von Capitol Hill.
Seine Mitarbeiter sagten den Medien, er habe immer in einem der selten benutzten Fitnessräume, die auf Wunsch der Abgeordneten in den Kellern eingebaut worden waren, geduscht und sich umgezogen.
Als Mitglied des Repräsentantenhauses war Burkholder einer von 435 Abgeordneten und somit auch nach zehn Jahren in Washington praktisch unbekannt. Er war einundvierzig, mäßig ehrgeizig, ein Gesundheitsfanatiker, der auf Sauberkeit hielt. Er saß im Landwirtschaftsausschuss und war Vorsitzender eines Unterausschusses für die Beschaffung von Spendenmitteln.
Burkholder war am frühen Mittwochabend beim Joggen in der Nähe der Union Station angeschossen worden. Er hatte einen Jogginganzug getragen - keine Brieftasche, kein Bargeld, keine Taschen, in denen sich etwas Wertvolles hätte befinden können. Es schien kein Motiv zu geben. Er war mit einem
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